Samstag, 30. Juli 2011

Kurzgeschichte des Monats

Die Kurzgeschichte des Monats Juli stammt von Sven Iwertowski:


Ankunft

Den Abhang rollt etwas Rotes hinunter. Es ist ein Ball. Oben auf dem Hügel die Anstalt, die "Unterbringungsanlage". Neben dem Hügel, in einer Art sumpfigen Mulde, liegen die Baugerüste, die Anstalt expandiert. Doch es ist zu dunkel, sie zu sehen. Nur die Absperrung dämmert noch nach, ein von hinten aus der Anstaltsgartenbeleuchtung sichtbar gemachter Silberstreif vor dem Horizont, der auch schon nicht mehr zu sehen ist.

Man ist versucht, die Anstalt für ein Erholungsheim oder Hotel zu halten - wäre da nicht der Zaun, der mehr danach aussieht, als solle er Wanderer am Eindringen hindern - was nicht ganz unrichtig ist, denn diese würden den Heilungsprozess der Insassen stören. Oder ein Irrer, der aus einem der abschließbaren, gut abschließbaren Zimmer entflohen ist und die Flure oder den Park durchstreift.

Die Irren werden vom Pflegepersonal, das fast durchsichtig die Flure auf- und abläuft, wieder in ein Zimmer gebracht, ein neues Zimmer, noch karger als das alte, um die Bestrafung ganz unterschwellig wirken zu lassen. Der Eingang ist offen und hell beleuchtet, in einem Wirrwarr verschiedener Baustile, mit neoklassizistischen Reliefs, die Säulen vortäuschen, an den Seiten der kirchenartigen Flügeltür. Die Tür selbst, scheinbar im gotischen Stil verfertigt, ist an beiden Seiten beleuchtet, und führt in den Vorraum, ein nüchternes Zimmer mit Plastikschalensitzen in Apfelgrün und einem Glaskasten, in dem eine bunt geschminkte Schwester sitzt und immer nickt, die ganze Zeit nickt und nickt und wartet, dass ein Patient sich anmeldet (denn hier meldet man sich selbst an) - wobei sich die Frage stellt, ob sie immer noch nicken würde, wenn niemand im Raum wäre, aber eigentlich stellt sich die Frage nicht, denn es ist immer, Tag und Nacht, zu jeder Zeit, jemand im Raum; ein Patient, ein zukünftiger Patient, der die Voruntersuchungen noch durchlaufen muss, damit festgestellt wird, woran er leidet, denn jeder, der kommt, hat einen Grund, ein Zimmer zu beziehen, es ist ihm oft nur nicht klar, viele denken nicht ein Mal, nicht ein einziges Mal daran, dass dies überhaupt eine Anstalt ist. Sie wissen nicht um ihre Krankheit, die sich in ihnen ausbreitet, sie verspüren keine Schmerzen, sie sind nicht verhaltens-auffällig, nur richten sie sich in ihrem Zimmer ein, als wäre es eine permanente Wohnstatt. Es sind die meisten, die sich einrichten, und die meisten davon sind untherapierbar.

Die Therapie selbst ist darauf ausgerichtet, den Kranken fester einzureden, dass sie gar nicht krank seien, vielmehr alles normal, ganz normal ist, denn, so die niemals ausgesprochene Maxime, wer das glaubt, der kann auch wieder entlassen werden, eigentlich ist die wahre, die funktionierende Gesellschaft nur die Anstalt, und nur in der Anstalt möglich; deshalb der Anbau. Die Anstalt expandiert.

Die Anstalt hat viele Stockwerke. Auf den unteren Ebenen sind die leichteren Fälle untergebracht, bis hinauf zum Dachboden steigert sich die Schwere der Krankheit, die a-sozialen Fälle dicht unter dem Dach voller Gerümpel; im Keller schließlich sind die Anti-Sozialen untergebracht, Untherapierbare, sabbernde Schreiende, Wahnsinnige, denen der weiße Schaum aus schmilzenden schwarzstumpfen Augen rinnt, wie Morgentau und Abendtau, die nicht von der Therapie überzeugt werden können, aber an der Möglichkeit zur Therapie sich abarbeiten, sich geistig abstoßen - diejenigen, die den Gesundungserfolg der anderen gefährden.

Neben dem Aufzug, dem neumodischen Aufzug, der alles verbindet, bis hinauf auf den Dachboden mit dem Gerümpel, den abgelegten Sachen aus früheren Zeiten der Anstalt, gibt es noch die weitaus schwierigere Möglichkeit der steilen, engen Treppen, die, einst die Hauptverbindungen, nunmehr eine Art von Notverbindungen zwischen den scheinbar auseinanderdriftenden Stockwerken sind. Alle Zeit ist eine Zeit. Alle Räume sind ein Raum. Am Ende jenes langen Flurs, an beiden Seiten mit Türen versehen, befindet sich die steile enge Treppe, deren Ersteigen schon die körperliche Erschöpfung bedeutet, die die geistige Erschöpfung der nächsthöheren Ebene bereits vorher anzeigt. Aber die geistige Erschöpfung beginnt schon auf der Treppe, eine Mattheit, wie das Gefühl einer Erschaffung aus Zerstückelung. Jede Zeit ist eine Zeit. Jeder Raum ist ein Raum.

Die Schwester im Glaskasten nickt weiter, wobei sie die zukünftigen Patienten betrachtet, mit jenem verständnisvoll hohlen Blick, der denjenigen gilt, die krank sind, ohne dass sie die Möglichkeit besitzen, ihre Krankheit vorzustellen.

Es geht den Flur hinab.


Entnommen aus:
Sven Iwertowski  Zimmerflucht
Erschienen im seidler-verlag.de
EUR 12,90   ISBN: 978-3-931382-48-3

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