Mittwoch, 9. November 2011

Kurzgeschichte des Monats

Die Kurzgeschichte des Monats November ist eigentlich ein Romanauszug:


Nils Ehlert, Anette Butzmann, Jancu Sinca, Olga Manj, Lothar Seidler
Nebelkopfhütte


Sechs ehemalige Schulfreunde sind auf einer einsamen Berghütte verabredet. Ihre frühere Anführerin hat alle zu einem verlängerten Wochenende in der freien Natur eingeladen. Doch Siggi, Edi, Isabell und Nico warten vergeblich auf Katharina. Und dann schafft es auch Jasmin nicht rechtzeitig zum Treffpunkt zu kommen. Der Rest der Gruppe macht sich auf den langen Aufstieg. Die Hütte entpuppt sich als winzig und unkomfortabel, unglaublich, dass Katharina, als neureiche Tochter, die Freunde auf diese Weise einquartiert. Obwohl sie nicht da ist, haben alle das Gefühl, dass sie weiterhin die Fäden zieht.

Dunkle Erinnerungen kommen auf. Die anstrengenden Wanderungen, die sich Niko ausdenkt, tragen nicht gerade zur Erheiterung der Gruppe bei. Unausgesprochene Fragen kreisen in den Köpfen: Was war damals zwischen Niko und Siggi? Und was zwischen Katharina und Edi? Wird die Container-Situation in den Bergen die Karten neu mischen? Dann schlägt auch noch das schöne Wetter um. Das Wochenende wird zu einem alpinen Psychopanorama. Und nicht nur das. Es entwickeln sich lebensbedrohliche Situationen. Steckt hinter allem ein heimtückischer Plan?


Treffpunkt: Goldener Ochse

Niko kommt eine Dreiviertelstunde zu früh auf dem Parkplatz des Goldenen Ochsen an. Natürlich ist er der Erste. Etwas anderes hat er nicht erwartet. Es wird noch dauern, bis die anderen eintreffen. Der Verkehr ist, wie üblich vor langen Wochenenden, unerträglich dicht gewesen. Wäre Niko nicht schon in den frühen Morgenstunden losgefahren, hätte er es nicht so zeitig geschafft.
Von der Autobahnabfahrt über Niederschlegen, dem Ort am Taleingang, bis zum kleinen Weiler Oberschlegen, durch den Niko gerade gefahren ist, ist die Straße immer schmaler geworden. Der Goldene Ochse ist das letzte Haus. Hinter dem
Parkplatz der Gastwirtschaft endet die Teerdecke, und es beginnt ein erdiger Waldweg, der mit einer Schranke abgegrenzt ist. Das Talende ist nicht mehr weit, die Berge sind zum Greifen nah. Niko nimmt dieWanderkarte, die neben ihm auf dem Sitz liegt, steigt aus dem Auto und faltet sie auf der Motorhaube auseinander. Es dauert nicht lange, und er hat die ringsum stehenden Berge identifiziert.
Er beschließt, schon einmal den Schlüssel für die Hütte im Goldenen Ochsen abzuholen. Vielleicht gibt es auch noch ein paar Tipps vom Wirt, welche Wanderungen sich besonders lohnen. Er geht zum Eingang, drückt die schwere Tür auf und geht durch den Flur bis in die Gaststube. Es ist ein großer, fast saalartiger Raum mit zahlreichen Tischen und einem massigen Tresen. Boden, Wände, Decke und auch dasMobiliar sind aus dunkel lackiertem Holz, das an vielen Stellen abgewetzt ist und ein etwas helleres Braun durchschimmern lässt. Durch die kleinen, gardinenverhängten Fenster fällt nur spärliches Licht. Nikos Augen brauchen eine Weile, um sich daran zu gewöhnen. Ein unbestimmter Geruch nach fettem Essen und abgestandener Luft dringt in seine Nase. Im Hintergrund läuft leise ein Radio. Niko vermutet, dass der Goldene Ochse schon bessere Zeiten erlebt hat.
Zwei Männer um die sechzig befinden sich im Raum, der ansonsten leer ist. Einer sitzt an einem Tisch, ein Glas mit schalem Bier vor sich, der zweite mit fleckiger Schürze steht daneben und unterhält sich mit ihm. Niko fragt denMann mit der Schürze, ob er der Wirt sei. »Ja, das bin ich«, sagt der in breitem Dialekt.
»Ich möchte den Schlüssel für die Nebelkopfhütte abholen «, sagt Niko, »Sie wissen sicher Bescheid.«
»Einen Moment«, sagt der Wirt und brüllt nach hinten in den Raum: »Maria!«
»Der Weg zur Hütte ist nicht einfach zu finden«, wendet er sich wieder an Niko, »es gibt keine Markierungen.«
»Das habe ich schon gehört«, sagt Niko.
»Sie können die Steigspuren leicht verfehlen und sich verlaufen. Das ist nicht ungefährlich. Es gibt überall Steilabstürze. Wenn Sie nicht aufpassen, dann ...«
»Ich habe ausreichend Bergerfahrung«, unterbricht Niko.
»Es wäre doch besser, Sie nehmen jemanden mit, der Sie führt. Hier zum Beispiel, den Schorsch.« Der Wirt deutet auf den einsamen Gast, der keine Miene verzieht, und brüllt ein weiteres Mal nach hinten: »Maria! Den Hüttenschlüssel!«
»Vielen Dank, aber wir haben eine Ortskundige in der Gruppe«, sagt Niko und nennt Katharinas Namen.
»Die Kathi«, ruft der Wirt erfreut, »die kommt also auch! Ich dachte, sie hätte nur für euch reserviert. Ja, die Kathi kennt sich aus hier. Die ist schon früher oft mit ihren Eltern hier gewesen. Ein prächtiges Mädel, schon als Kind. Eine ganz
Aufgeweckte, ganz Hübsche. Wartet sie draußen? Warum ist sie nicht mit Ihnen hereingekommen?«
Niko runzelt die Stirn, er teilt die Begeisterung des Wirtes für Katharina nicht, obwohl er zugeben muss, dass sie gut aussieht, intelligent und selbstbewusst ist. Bei einem Mann hätte er das attraktiv gefunden. Als Frau war und ist sie eine Konkurrentin für ihn.


In der Hütte: Kochen am ersten Abend

Was für eine furchtbare Küche, denkt Isabell enttäuscht. Irgendetwas riecht streng und muffig, nach Keller. Sie reibt sich frierend die Oberarme. Sie kann kaum glauben, dass die Hütte wirklich Katharina gehören soll. Zu Katharina hätte eher eine geräumige Wellness-Hütte gepasst. Isabells Blick wandert forschend durch eines der beiden Regale mit Haushaltsgegenständen. Ein Stövchen, handgestrickte Eierwärmer und einige Glaskrüge. Hier hat jemand Ausrangiertes deponiert. Becher, Schnapsgläser, Teller, zu viele Löffel und zu wenig Gabeln und Messer, das sieht nach häufigem Geschirrspülen aus. Allerdings fehlt dafür ein Waschbecken. Nach längerem Suchen findet Isabell eine alte Zinkwanne. Jetzt wird ihr klar, wo der muffige Geruch herkommt. Sie entsorgt mit spitzen Fingern ein paar alte Lappen nach draußen. Als sie zurückkommt, sitzen Siggi und Edi auf den Bänken. Niko hantiert mit souveränem Gleichmut an der Feuerstelle. Gelegentlich fallen einige Aschereste auf den Boden.
»Niko«, beginnt sie zaghaft.
»Was?« »Ich will dich ungern unterbrechen, aber wir haben kein Wasser!«
Niko dreht sich mit einem süffisanten Grinsen zu ihr um.
»Doch, doch, Wasser gibt es hier schon. Katharina hat es mir erklärt. Draußen gibt es einen Wasserlauf, wenn du raus gehst, gleich links.«
Isabell beginnt zu verstehen. »Du meinst hoffentlich nicht diese Kuhtränke mit dem verrosteten Rohr darüber?«
»Bei mir ist das einWasserlauf! Das beste Bergquellwasser, das du je getrunken hast«, erwidert Niko. Isabell ärgert sich über Nikos Unwissenheit. Sie kann kaum glauben, dass sie und Niko in der gleichen Schule gewesen sind.
»Aus dem alten Rohr kommen bestimmt giftige Metalle, so wie das aussieht.  Außerdem ist das Ding mit schwarzen Spinnweben voll.«
»Machst du Witze? Hier ist alles mit Spinnweben voll. Warte mal, bis morgen Tageslicht ist!« Niko wendet sich wieder seinem Ofen zu.
Isabell schreit auf: »Also, ganz ehrlich, das müssen wir aber noch ändern, sonst kann ich hier nicht schlafen.«
Edi tritt auf sie zu: »Er will dich doch nur ärgern, merkst du das nicht? Ich mache das mit demWasser. Siggi kann ja schon mal den Tisch decken. Was gibt es eigentlich zu essen?«
»Erbswurst«, sagt Niko.
»Erbswurst?« Isabell ist entsetzt, »Erbswurst, ist das nicht irgend so ein dehydriertes Zeug aus dem Supermarkt?«
Niko fuchtelt mit dem Schürhaken im Feuer. Er dreht sich genervt zu Isabell um. »Erbswurst gibt es schon seit hundert Jahren, es ist noch niemand daran gestorben. Man kocht es mit Wasser auf und fertig ist die Sache. So ist das in einer Hütte. Haute cuisine kannst du hier leider nicht erwarten. Ich habe reichlich Brot und Käse mitgenommen, Katharina wird auch noch ein paar Lebensmittel mitbringen. Bis dahin gibt es Erbswurst und basta.«


EHEC und ETEC

»Ich kann nicht verstehen, warum Katharina nicht kommt. Hat sie denn gar nichts weiter gesagt? Du hast dich doch mit Katharina getroffen«, bohrt er. Isabell schreckt auf.
Das ist es also! Er will sie ausquetschen über Katharina. Die ganze Zeit hat er sich schon überlegt, wie er es anfangen soll. Schon gestern auf der ersten Wanderung hat er nach diesem Treffen im Café gefragt. Der ganze Smalltalk hat nur zu diesem Zweck gedient.
»Wir wollten die Reise besprechen, wieso?«, sagt Isabell gedehnt.
»Hat sie wirklich nichts gesagt? Gibt es vielleicht irgendeinen Grund, weshalb sie uns hier in die Berge schickt und dann nicht kommt?«
»Keine Ahnung«, sagt Isabell. Sie wagt nicht, ihm in die Augen zu schauen.
»Habt ihr euch gestritten?«, fragt Edi.
»Nein, nein«, beeilt sich Isabell zu sagen, »wie kommst du darauf!«
»Nun ja, ein Herz und eine Seele seid ihr noch nie gewesen.«
»Das liegt nicht an mir«, erwidert Isabell verschnupft.
Wenn sie so tut, als wäre sie beleidigt, könnte man das Thema vielleicht schnell und unauffällig wechseln.
Edi knufft sie in die Seite und lächelt sie an.
»Erzähl dochmal, was habt ihr beiden Kaffeetanten besprochen?«
Was ist er doch für ein Mistkerl, denkt Isabell, er will mich unbedingt aushorchen. Aber ich habe ihn durchschaut. Seine weiche Stimme. Sein Lächeln. Alles nur Maskerade. Es ist widerlich! Nichts werde ich erzählen. Soll Edi sich doch denken, was er will. Dieser Nachmittag mit Katharina gehört mir. Das bleibt mein Geheimnis. Ich habe so lange gewartet, viel zu lange.
Sie schaut ihm konzentriert und kalt in die Augen. Mit einemMal ist es ganz leicht. Sie lächelt: »Es war alles bestens zwischen Katharina und mir.«
Isabell sieht seinen verunsicherten Blick. Die Runde hat sie erst mal gewonnen. Edi schweigt wieder.
Isabell konzentriert sich auf ihre Füße. Das ewig Gleiche lullt sie ein: Baum, Gras, Äste, Vogelstimmen, Fichtennadeln, Steine, Gras, Äste, Baum, Steine, Wolken, Äste, Gras. Selbst die Blase an ihrem Fuß erzeugt immer wieder das gleiche Gefühl, autsch, weg, autsch, weg. Der Wald wird langsam dichter. Der düstere Nadelwald taucht ihren Kopf in ein taubes Gefühl. Alles wird leer, jeder Gedanke wird weggesaugt von diesem Baum, Gras, Äste, Baum, Gras. Dumpfer Geruch von moderndem Holz dringt in ihre Nase. Der Takt von Edis Schuhen erscheint ihr wie einMarschlied: tuff, tuff, tuff, ta da. Als komme nun eine weiße Wolke von oben und hülle sie in eine stille Zufriedenheit. Nun ist es ihr egal, dass Edi sie gestern wegen der Sonnensteine angegriffen hat. Was immer auch der Grund war: Sie würde ihm verzeihen. Vielleicht würde sie ihm doch noch etwas über das Treffen mit Katharina erzählen. Aber was könnte sie ihm dazu sagen?
Ein paar Tage vor dem Treffen im Café hat sie aus beruflichen Gründen dieses verflixte Seminar besuchen müssen, eine stressigeWoche.
»Schauen Sie bitte noch mal ganz kurz auf.  Danke. Bevor wir in einer halben Stunde mit einem anderen Diagnoseverfahren, dem Immunabsorptionstest, weitermachen, möchte ich Sie bitten, doch nochmal einige Proben selbst in Augenschein zu nehmen. Dann kommt es später nicht zu Verwechslungen.
Kommen Sie bitte alle nach vorn?« Isabell und Evi zwängten sich hinter den Tischen vor. Sie folgten eifrig den klappernden Schritten und versammelten sich gemeinsam mit den anderen um einen Tisch. Dort lag eine rotbraune Ledermappe. Die ganze Gesellschaft war schon sehr müde. Einige unterdrückten ein Gähnen. Evi starrte über alle hinweg durch das sonnige
Fenster hinaus. Die Dozentin strahlte die Teilnehmerinnen an, als hätte sie einen Geburtstagskuchen vor sich, den sie gleich anschneiden würde. »Hier habe ich Ihnen eine sehr interessante Sammlung von seltenen Erregern aus aller Herren Länder mitgebracht. Wie Sie alle wissen, schleppen uns die Leute
durch ihre Flugreisen einige Raritäten in deutsche Krankenhäuser.
Die Tropenmedizin kommt beinahe nicht hinterher. Daher habe ich hier eine ganz, ganz neue Sammlung mitgebracht. «
Mit schnarrendem Geräusch wurde der Reißverschluss der Mappe geöffnet. Zwanzig verschlossene, gleich aussehende Glasröhrchen waren zu sehen. Verzückt griff sich FrauMeyer-Riemhofer eines der kleinen Röhrchen und hob es
hoch. »Die Erreger, die sich in den kleinen Glasgefäßen befinden, sind teilweise abgetötet und teilweise noch lebensfähig. Das kommt darauf an. Manche Bakterien fühlen sich ganz wohl in dieser besonderen Nährlösung. Ich schreibe Ihnen die Zusammensetzung später noch an die Tafel. Das Fläschchen,
das Sie hier sehen, enthält den Erreger der typischen Darminfektion, auch ETEC oder im Volksmund Montezumas Rache genannt.« Sie wartete kurz das Kichern in der Gruppe ab. »ETEC, weiß eine von Ihnen noch, wo die Abkürzung herkommt?« Eine kleine Blonde aus der zweiten Reihe murmelte
gelangweilt: »Enterotoxischer Escherichia coli.« »Ich danke Ihnen, Frau Reissmann«, sagte Frau Meyer- Riemhofer lächelnd, »also gut, Toxine hat der kleine ETECGiftzwerg, nämlich sowohl hitzelabile als auch hitzestabile
Toxine. Mehr darüber finden Sie in der Lektüre, die ich Ihnen gleich austeilen werde. ETEC unterscheidet sich also im Prinzip nicht von den hierzulande üblichen Erregern für die typischeWochenenddarmgrippe. Bis die Krankheit ausbricht, dauert es zehn bis vierundzwanzig Stunden. Außer Darmkrämpfen,
wässrigen Durchfällen und Erbrechen ist nichts zu befürchten. Nach weniger als fünf Tagen ist alles vorbei.« Frau Meyer-Riemhofer sah aufmunternd in die Runde und griff schwungvoll ein zweites Mal in ihr Waffenarsenal:
»Doch hier haben wir einen gefährlichen Vertreter aus der Gruppe der Darmbakterien: EHEC oder enterohämorrhagischer Escherichia coli genannt.« Neugierig beugten sich die Teilnehmerinnen nach vorn. Frau Meyer-Riemhofer hob vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand ein anderes Röhrchen hoch. »Die Flüssigkeit sieht bräunlicher aus«, erwähnte eine Teilnehmerin. Frau Meyer-Riemhofer nickte wohlwollend: »Nun ja, das ist kein wirklicher Unterschied, die Proben sind beide noch etwas mit Stuhl verunreinigt.
Der eigentliche Unterschied ist, dass beim EHEC nach fünf Tagen noch nicht alles vorbei ist. Das Krankheitsbild geht mit Fieber einher, ist sehr viel langwieriger und kann zu blutigem Durchfall und später zu Nierenschädigungen führen.
Letztendlich kann die Krankheit auch tödlich enden, meine Damen.« Sie schwenkte verspielt die Röhrchen. Mit zartem Gluckern befreiten sich zwei Luftbläschen, die träge nach oben wanderten. Nun hatte sie je eines der Fläschchen in der rechten und linken Hand. Sie drehte sie lässig mit den Fingerspitzen hin und her. Isabell beneidete sie um dieses Gefühl.
Dieses Gefühl der Macht über so viele Dämonen. Eingesperrt in einem kleinen Glasgefängnis. Wie ein Dschinn, der in der Flasche sitzt. Im Märchen wird er befreit. Er wird dem Befreier drei Wünsche erfüllen. Isabell brauchte keine drei Wünsche. Isabell hatte nur einen Wunsch.



Edi will weg

Ein grollendes Rumpeln lässt Eduard hochblicken. Die Wolkendecke hat sich in ein sehr dunkles Grau verwandelt. Eine diffuse Dämmerung liegt  über der Landschaft. Erste Tropfen fallen, Wetterleuchten erhellt die finstere Himmelskulisse. Eduard bleibt stehen und sieht sich um. Durch den dünnen Baumbewuchs kann er in das Tal blicken, aus dem sie am Freitag gekommen sind. Er sieht ein bekanntes Muster: einen Waldrand und in einem gewissen Abstand davon ein Gebäude mit einem Parkplatz, jetzt stehen drei Autos darauf, eines davon ist sein eigenes, sein vorläufiges Ziel. Eduard erinnert sich an dieses Bild. Beim Aufstieg waren sie hier irgendwo über einen Pfad auf den Weg gestoßen, auf dem er gerade steht. Da der Ausblick genauso war wie jetzt, kann die Stelle nichtweit sein. Jetzt wäre er beinahe zu weit geradeaus gegangen und hätte sich doch noch verlaufen. Er geht langsam weiter und sucht die Abzweigung.Die Zahl der Tropfen nimmt zu, in immer dichterer Folge klatschen sie auf die Landschaft ringsumher, auf den Weg und auf Eduard. Da sieht er die Gabelung. Er nimmt den linken Weg, der etwas unebener ist als der Weg vorher, aber das ist wie beim Aufstieg, nur umgekehrt. Der lichte Wald geht in Gestrüppinseln über, zwischen denen sich der Pfad hindurch windet, das Gefälle nimmt stetig zu. Eduard bewegt sich durch das dichte Rauschen, das ihn umgibt und immer noch lauter wird. Ein starker Windstoß treibt ihm einen Schwall harte Tropfen ins Gesicht, raubt ihm einen Moment die Sicht, ein weißer Knall erfüllt die Luft, vorwärts, nur weg, Eduard verliert den Boden unter den Füßen und rutscht halb auf der Seite liegend abwärts, unaufhaltsam. Er weiß, hier ist er so falsch wie noch nie in seinem Leben. Er versucht, sich an den kurzen Halmen festzuhalten, seine Finger in das nasse Gras zu krallen, aber nichts hilft, alles glitscht weg, der schwere Rucksack trägt das Seine dazu bei. Der sichtbare Hang ist ein großer Abwärtsbogen, der am Ende zur Senkrechten strebt. Eduard treibt auf einGestrüpp zu, sieht die letzte Chance. Eine Bodenwelle verändert seine Richtung, er streift das Gestrüpp nur, verlangsamt aber doch und bekommt beim Vorbeischlittern etwas Kratzendes zu fassen. Er hält sich mit beiden Händen daran fest, die Abwärtsbewegung kommt zu einem Stillstand. Eduard hängt am Busch in steiler Schräglage, das Gesicht auf das nasse Gras gedrückt, unter sich irgendein Nichts. Drei Elemente toben sich aus, nasskaltes Prasseln, Sturmgezaus und krachende Blitze. Eduard schmiegt sich an die Erde. Er spürt, dass er sich hier nicht mehr lange halten kann, durch die Kälte werden seine Finger allmählich gefühllos. Er muss den Rucksack loswerden, der an ihm zerrt. Um den Bauchgurt zu öffnen, sind zwei Hände notwendig. Eduard gelingt es mit der rechten Hand durch ein Wechselspiel aus Ziehen und Drücken, den Bauchgurt zu lösen. Dann winkelt er den rechten Arm an und zieht ihn unter dem Schultergurt hindurch. Um noch die linke Schulter zu befreien, sucht er sich am Busch mit der rechten Hand einen neuen Halt und lässt danach die linke los. Dabei bricht das überforderte Pflanzenstück ab, an dem er hängt. Auf der steilen Schräge beginnt er sofort wieder zu rutschen. Der Rucksack zieht ihn in die Tiefe. Er strampelt mit den Beinen, um sich Auftrieb zu verschaffen, erreicht aber nichts, seine letzten Griffe nach dem rettenden Busch gehen hektisch ins Leere. Eduard schreit. Er fällt.

(...)

Entnommen aus:

Ehlert, Butzmann, Sinca, Manji, Seidler  Nebelkopfhütte
Erschienen im seidler verlag 
14,80 EUR  ISBN 978-3-931382-45-2 

Dienstag, 8. November 2011

Gedicht des Monats

Das Gedicht des Monats November stammt von Olga Manji:


Nach dem Gewitter

Du, meine Freundin, sagst,
ich soll keine Liebesgedichte schreiben.
Ich aber male meine Schillerverse
auf Regenwolken und werfe sie ins Wasser.
Siehst du die hingestreckte Baumgestalt
im Urwaldfluss des Auenwaldes,
im Brand der Sonne nach dem Gewitter?
Die nackten Glieder emporgereckt,
verschlungen wie im Liebeskampf,
sonnt sich der glatte Stamm im Dunst,
licht und leicht, sich auf dem Wasser spiegelnd.
Hin und wieder ein Vers, abgelauscht den Wellen,
einem Strömen gleich aus grünen Augen.

Und du, meine Freundin sagst,
ich soll keine Liebesgedichte schreiben.
Ja, ja, bereift bin ich schon. Eine raurindige Eiche,
emporgehoben in den blauen Himmel der Heiterkeit.
Auch wenn er nach einer Liebesnacht wegschwimmt
wie ein Stück Holz, das du aus den Augen verlierst.
Mir bleibt der Schimmer seiner Niederungen
wichtiger als der Glanz von tausend Flussperlen.
Meine Freundin, sein Strudeln und Wirbeln
in meinem schillernden Gedächtnis
ist mein einziger Trost.
Zwei heiße Tropfen auf dem Blatt einer Brennessel,
Verse, hin und wieder, wie ein fernes Donnergrollen.



Entnommen aus der Heftanthologie "Romantikspiegel" der LitOff, erschienen 2006 anlässlich des Literatursommers Baden-Württemberg. 
Weitere Informationen über Olga Manj finden Sie auf ihrer Autorenseite.