Freitag, 14. Februar 2020

Buchkritik: Ausgleicher und Awarokratie von Konrad Pilger


Das politische Buch

Regierungskrise in Thüringen. AKK tritt von ihren Ämtern zurück. Die Volksparteien im freien Fall. In der deutschen Politik liegt einiges im Argen. Der gesellschaftliche Konsens, der dieses Land über Jahrzehnte geprägt hat, ist kaum noch vorhanden. Spaltung herrscht vor. Links und Rechts, Ost und West, Alt und Jung, Arm und Reich, Stadt und Land, die Risse werden tiefer. Die Politik findet keine Antworten auf die Herausforderungen der Zeit. Wir hören immer wieder dieselben Appelle, die Ermahnungen zum anständigen Verhalten, mit denen aber keine Probleme gelöst werden. Ist das vielleicht das Ende der parlamentarischen Demokratie? Weit gefehlt. Das ist ein neuer Anfang.

Frische Ideen für die Demokratie

Konrad Pilger hat mit „Ausgleicher und Awarokratie“ ein erstaunliches Buch vorgelegt, in dem er einige Ideen erläutert, mit denen sich die Demokratie von innen heraus erneuern und festigen kann. Die Maßnahmen sind verblüffend einfach und erfordern nur ein bisschen guten Willen, keine Milliarden Euro und keine jahrzehntelangen Vorbereitungen. Die Kernidee lässt sich auf ein einziges Wort reduzieren: Ausgleich. Keine gesellschaftliche Gruppe sollte zu stark werden. Milliardäre und Hartz 4-Empfänger sollten nicht zu weit auseinander driften. Heute lebende Menschen sollten späteren Generationen nicht zu viele Lasten aufbürden. Es sollte nicht sein, dass einzelne Ballungsräume immer mehr Menschen anziehen, mit all den Nachteilen wie explodierende Mieten und überlasteter Infrastruktur, während gleichzeitig ländliche Räume ihre Einwohner verlieren. Konrad Pilger verlangt, dass der Ausgleich ähnlich wie Freiheit oder Rechtsstaatlichkeit zum demokratischen Grundwert erhoben wird.

Wahrscheinlich würden viele Leser dieser Forderung zustimmen. Es stellt sich aber die Frage, warum der Ausgleich heute nicht funktioniert, warum die Gräben immer tiefer werden. Pilger hat einen Hauptschuldigen ausgemacht: die Parteien. Sie sitzen überall, haben den Staat zur Beute gemacht. Ob in den Ministerien und Behörden, ob im öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder in Verbänden, Vereinen und Gewerkschaften, überall haben sich Politiker der etablierten Parteien breitgemacht. Sie haben Netzwerke gebildet, von denen sie persönlich profitieren, von denen sie aber auch abhängig sind. Kein Politiker kann heute mehr frei entscheiden, ohne auf irgendeine Lobby Rücksicht nehmen zu müssen. Wir alle kennen die berühmten Beispiele: Glyphosat – Chemieindustrie, Dieselskandal – Autoindustrie, Tierwohl – Agrarindustrie, Berliner Flughafen usw.

Warum sind wir nicht schon früher darauf gekommen?

Pilger macht einen ganz einfachen Vorschlag. Alle wichtigen Posten sollten mit Ausgleichern besetzt werden. Damit sind Persönlichkeiten gemeint, die Mitglied keiner Partei und keines Verbandes sein dürfen, die aber über Lebenserfahrung und charakterliche Eignung verfügen. Sie sind im besten Sinne unabhängig und neutral, können ihre Entscheidungen allein auf Basis ihres Gewissens fällen. Pilger formuliert sechs Aufgaben, die Ausgleicher zu bewältigen haben. Dazu zählen (Auszüge aus dem Buch): 

1. Ganzheitlich handeln
„Der Ausgleicher soll unabhängig und gerecht im Sinne des großen Ganzen handeln. Er wahrt die Interessen aller Menschen, sowohl die der heute lebenden als auch die der kommenden Generationen, und ist dem Wohl aller Tiere, Pflanzen und Lebensräume verpflichtet. Berücksichtigt werden alle Folgen einer Entscheidung, nicht nur die unmittelbaren, sondern auch jene, die sich erst nach langen Zeiträumen oder an weit entfernten Orten auswirken.“
Diese Forderung stellt man auch an Parteipolitiker, doch die können oder wollen sie nicht erfüllen, weil sie gefangen sind in einem Netz aus Abhängigkeiten. Sie müssen an die Interessen ihrer Wähler denken, die nur einen Teil der Gesellschaft ausmachen, etwa Konservative, Linke, Liberale oder Grüne. Sie müssen die Parteiräson einhalten, müssen Parteispenden generieren, müssen die Lobbyisten befriedigen, die Gewerkschaften, Verbände und NGOs. Ein Ausgleicher hingegen ist per Definition nicht auf Parteispenden angewiesen, auch nicht auf Jobangebote großer Konzerne, die ihn nach seiner Karriere in den Aufsichtsrat berufen möchten. Der Ausgleicher muss auch nicht die Interessen einer bestimmten Wählergruppe, etwa Rentner oder Beamte, übermäßig gewichten, weil er direkt vom Volk gewählt wird, und zwar vom ganzen Volk, von allen Altersklassen und sozialen Schichten, von Angehörigen aller politischen Lager. Das ist echte Unabhängigkeit.

3. Kompromisse aushandeln
„Der Ausgleicher qualifiziert sich aufgrund seiner Fähigkeit, zwischen verschiedenen Interessengruppen Kompromisse zu schließen. Er nimmt alle Argumente auf und bewertet sie objektiv. In Streitfragen vermittelt er zwischen den Parteien, um ein möglichst einvernehmliches Ergebnis zu erzielen.“
Diesen Punkt kann man nicht hoch genug ansetzen. Egoismus hat sich breitgemacht in unserer Gesellschaft. Jeder denkt nur noch an sich oder seine Gruppe, das Allgemeinwohl ist nicht mehr von Bedeutung. In jüngster Zeit ist eine Explosion von Hasskommentaren in den sozialen Medien hinzugekommen, gegen die wir kein Mittel finden. Es scheint so, als ob wie die Fähigkeit verloren hätten, einander zuzuhören und die Hände zur Versöhnung zu reichen.
Auch hier ist der Ausgleicher dem Parteipolitiker überlegen. Ein Bundeskanzler oder ein Bundestagspräsident, der Mitglied einer bestimmten Partei ist, wird immer im Interesse dieser Partei handeln. Dieses Verhalten hat er über Jahrzehnte hinweg trainiert und es lässt sich mit der Übernahme des neuen Amtes nicht einfach abschütteln. Die Parteilichkeit auf allen Posten ist ein echter Geburtsfehler unserer Demokratie. Was spricht gegen einen neutralen Kanzler oder Präsidenten? Gar nichts. Versöhnen ist besser als spalten.



Keine Angst vor Bürgerbeteiligung

Pilger treibt den Gedanken noch weiter. Er schlägt ein zusätzliches Parlament vor, das er die Kammer der Freien Bürger nennt. Das Problem mit dem herkömmlichen System ist, dass man alle vier oder fünf Jahre bei Wahlen seine Stimme abgibt – und dann ist sie weg. Erst nach Ablauf der Legislaturperiode bekommt man sie zurück. In der Zwischenzeit können Parteipolitiker damit machen, was sie wollen – auch gegen die Interessen der Wähler handeln. Außerdem ist der Bürger gezwungen, bei den Parteien ein ganzes Programm einzukaufen, obwohl er oft nur mit wenigen Punkten übereinstimmt. Bei der Kammer der Freien Bürger gibt es diese Einschränkungen nicht. Es hat keinen festen Sitz, sondern reist über das Land, macht Station in allen größeren Orten und kommt somit zu den Bürgern, was neben dem praktischen Nutzen auch eine wichtige symbolische Handlung bedeutet. Das Parlament dient den Bürgern, nicht umgekehrt.

Jeder darf dabei mitmachen. Jeder Staatsbürger darf Anträge einbringen, Auskunft verlangen und unter bestimmten Bedingungen sogar Gesetzesinitiativen starten. Dem Bürger wird seine Stimme nicht weggenommen, er darf sich ganzjährig am politischen Prozess beteiligen. Außerdem ist er nicht gezwungen, sich dauerhaft für ein Lager zu entscheiden. Man kann in einer Sachfrage eine grüne Position einnehmen, etwa beim Umweltschutz, und in einer anderen Sache eine konservative Position wählen, etwa bei der inneren Sicherheit. Das ist echte Mitbestimmung.

Um mehr Bürgerbeteiligung zu verhindern, führen Kritiker meist Totschlagargumente an. Der Klassiker ist die Todesstrafe. „Wenn das Volk entscheiden darf, führt es den Galgen wieder ein“, heißt es. Das ist Blödsinn. Erstens sind wir darüber längst hinweg, und zweitens wird die Kammer der Freien Bürger von einem Ausgleicher geleitet. Für ihn gelten die oben genannten Ansprüche. Selbst wenn jemand einen Antrag auf Todesstrafe einreichen sollte, würde ihn der Ausgleicher unter Hinweis auf die humanitären Grundwerte ablehnen. Problem gelöst.

Fazit: Ausgleicher und Awarokratie ist ein Buch, das in die Zukunft weist. Viele Menschen sind unzufrieden mit dem derzeitigen Zustand unserer Demokratie. Sie wollen keinen Systemwechsel, aber sie wollen Verbesserungen. Sie wollen mehr Mitbestimmung und mehr Ausgeglichenheit in unserer Gesellschaft. Konrad Pilger hat einige brillante Ideen entwickelt, die mit Sicherheit umgesetzt werden. Vielleicht nicht heute oder morgen, vielleicht auch nicht unter den Begriffen, die er gewählt hat, aber die Demokratie wird sich erneuern.

Konrad Pilger, Ausgleicher und Awarokratie, Scheinwerfer Verlag, 104 Seiten, Taschenbuch EUR 7,99, E-Book EUR 5,99 
Weitere Infos unter: www.scheinwerfer-verlag.com 


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