Montag, 9. Juli 2012

Grenzgängerin Olga Manj: Wolfsmann


Olga Manj schreibt Lyrik und Prosa, sie erforscht Verstand und Gefühl, Mensch und Kreatur - und sämtliche Grenzgebiete. Davon zeugt auch ihr Gedicht "Wolfsmann", das sie neben einer Kurzgeschichte im Mannheimer theater oliv (14.07.12) vortragen wird.



Wolfsmann

In sengender Hitze die Füße auf Eis,
gehüllt in das Fell eines Wolfes.
In züngelnde Geistwelt eingeschlossen,
harrt er der Ausbrüche,
die Blitze in den Himmel schleudern.

Er sprang vor Zeiten auf glattes Parkett,
auf einen vereisten Fluss am Ufer der Wüste.
Ist sicher auf allen Vieren gelandet,
zwischen nächtlicher Wüste und hellem Wald,
auf der bitteren Scheide des Wissens.

In diesem Zwielicht von Tag und von Nacht,
explodiert die feurige Hülle ins Nichts.
Er richtet sich auf und spürt
das Fell, das unter dem Maßanzug kratzt.

So schlittert ein Wolfsmann auf dem Eis,
zwischen Mannsein und Frausein in Wehmut,
zwischen Urwaldhitze und trockner Wüste
auf der Kante der scharfen Gefühle.


In der Wüste sitzen Frauen,
singen Lieder unter funkelnden Sternen.
Und drüben im Urwald da trommeln sie,
auf der Lichtung im Schatten des Tages.

„Fließ Fluss“, hört er sie aus weiter Ferne
und „Fluss, fließ endlich weiter.“
Er sieht, wie sie alle näher wogen,
hie aus der Nacht und da aus dem Tag.

Doch in seiner Näh’ auf dem glatten Eis
da rutschen die Frauen aus, rettungslos aus,
die aus der Wüste und die aus dem Wald.
Dabei schaut einer zu, fassungslos zu.

Ein huschendes Lächeln im Blick wie ein Kind
dreht er jetzt ab, vom unlebbaren Leben.
Stumm gleitet er als schwarzes Nichts
zerbrechlich, schillernd, durchsichtig weiter.

Vor langen Zeiten einmal auf hoher Fahrt,
gesprungen aus kraftblauem Himmel.
Doch jetzt gleitet einer immer weiter
auf eisiger Fläche ins Feuer zurück.





Über die Autorin:
Bisher erschienen 1995 der Gedichtband ›Liebe und sonstige Schrecklichkeiten‹ und einzeln veröffentlichte Geschichten, darunter 1997 ›Braves Mädchen‹, 1998 ›Die Hexe Snella‹, 2003 ›Die Königin der Nymphen‹ und 2005 ›Der Selbstmord‹. Die Autorin lebt und arbeitet in Mannheim. Sie gehört der Heidelberger Literaturoffensive (LitOff) seit 2003 an. In folgenden Anthologien dieser Autorengruppe ist sie mit Gedichten und Geschichten vertreten: Nachtmenschen (2003), In den Tag (Hörbuch, 2004), Romantik-Spiegel (2006).




Olga Manj  Die schöne Bäckerin
Kurpfälzer Dekamaron.
Lustvolle Geschichten von einer Landfrau, die gerne sommerliche Obsttorten backt. Über dem Stall hat sie heimlich ein Filmstudio eingerichtet, für sie junge Männer beim sexy Tortenessen fürs Publikum abfilmt und gelegentlich auch vernascht. Doch ihr Mann und die anderen Landfrauen kommen dahinter.
8,90 EUR  ISBN 978-3-931382-38-4  Seidler Verlag




Sonntag, 8. Juli 2012

Grenzgänger Helmut Orpel: Die unsichtbare Stadt



Helmut Orpel überspringt Grenzen, zwischen Realität und Vision, Vergangenem und Gegenwärtigem. Auf der Mannheimer KultTour (14.07.12, ab 19:00 Uhr) wird er mit seiner Kurzgeschichte "Die unsichtbare Stadt" den Beweis antreten. Sie geht von einem wirklichen Ereignis aus und führt in der Phantasie weiter bis zu den Quellen des Entstehens.  Auf dieser Reise begegnet er dem Dichter Oswald von Wolkenstein, der zu Beginn des 15. Jahrhunderts eine Reise in die Kurpfalz unternahm.  „Hat eine Stadt eine Seele“, fragt sich der Autor. „Und ist das, was wir wahrnehmen, nur der Ausfluss dieser Seele?“

„Wenn Mannheim eine Seele hat, so ist sie feucht, moderig und faltenreich. Die sichtbare Gestalt der Stadt ist ein Reflex der Unsichtbaren.  Im Licht der Nacht blüht Mannheim richtig auf und die Lupinenstraße ist überregional weit bekannter als das Nationaltheater. Woher kommt´s?  In diesem Zwiespalt zwischen Wollust und Moral, zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Sittsamkeit und Heuchelei hat Mannheim seinen Ursprung.
Man erkennt dies nicht sofort, es ist fast wie bei der Seele, man spürt wie dort die Wirkung. Schiller spürte sie und Mozart auch. Sie bissen sich die Zähne aus an dieser Stadt und wurden später einverleibt, so ganz wie Söhne, aber erst als sie anderenorts berühmt geworden waren. Mannheim geht auf Nummer sicher. (Aus „Die unsichtbare Stadt“)


Helmut Orpel wurde 1955 in Grünstadt geboren. Nach einer Ausbildung als Bürokaufmann ging er nach Mannheim und machte das Abitur. Danach studierte er in Heidelberg Philosophie, Kunstgeschichte und spanische Literaturwissenschaft. 1995 promovierte er mit einer Arbeit über die bildende Kunst im spanischen Bürgerkrieg. Er arbeitet als Journalist, freier Autor und Dozent an der Fakultät für Gestaltung der Hochschule Mannheim. Seit 2008 ist er Vorsitzender des Literarischen Zentrums Rhein-Neckar. Die Räuber77 e.V. 
Mehr unter: www.orpel.info



Samstag, 7. Juli 2012

Grenzgänger Bernhard Schader: Heldenreise. Altes Format


Bernhard Schader sucht Grenzerfahrungen im Alltagsleben, in den scheinbar gewöhnlichen Ereignissen, die manchmal einen ungewöhnlichen Verlauf nehmen. Davon berichtet auch sein Text "Heldenreise. Altes Format", aus dem er am 14.07.12 in Mannheim auf der KultTour lesen wird.
Zur Einstimmung ein Ausschnitt aus einem 2011 geschaffenen Werk:



Im Süden der Stadt fahren die Busse pünktlich

Bevor sie zur Haltestelle gegangen ist, hat sie die Mülltonne auf die Straße gestellt. Die Mülltonne wird immer mittwochs geleert, alle zwei Wochen. Vorgestern war Montag, Peter kommt immer montags.
Im Bus haben sie jetzt sicher auch eine Kamera, auch im 53-er. Immer kommt er zu spät, der 53-er. Und er ist so laut, vor allem im hinteren Teil ist er so laut. Aber im hinteren Teil sitzt man höher und man sieht mehr. Den Fahrer, die Fahrgäste, die Straße. Das große rote Plakat draußen: Jeder Mensch hat etwas, das ihn antreibt, steht darauf, in weißer Schrift.
Sie hat alles gut vorbereitet. Ein Projekt muss man gründlich planen und sorgfältig vorbereiten, hat Karl immer gesagt. Das hat ihr so sehr an ihm gefallen: dass er immer diese großartigen Projekte realisiert hat. Realisieren, das hat er gern gesagt. Das neue Badezimmer hat er lange geplant und vorbereitet und wunderbar realisiert mit den italienischen Fliesen und der Badewanne mit den Wirbeldüsen und der Dusche mit dem großen Duschkopf wie in dem Hotel in England, in dem sie einmal waren. Wie ein englischer Regen fühlt es sich an, wenn man darunter steht.
...
Die Kameras sind jetzt überall, nicht nur im Bus. Überall wird man beobachtet. In der Bank, in der Straßenbahn, im Kaufhof. Sogar im Edeka-Markt.
Aber die Kameras sind kein Problem. Sie hat ihre Sonnenbrille in die Handtasche gepackt, die wird sie aufsetzen, und ein großes Tuch wird sie sich um den Kopf binden. Sollen sie ruhig denken, dass sie so eine Türkin ist. Die tragen jetzt alle ein Kopftuch, die Türkinnen, auch die jungen. Da sieht man endlich, wie viele das sind, an den Kopftüchern kann man es sehen. Dass das einmal so viele sein würden, damit hat doch niemand gerechnet. Und diese jungen Dinger, hautenge Hosen und Pullis und dazu Kopftücher.
...
Sie hat ihr Projekt lange geplant. Hat sich ausführlich informiert. „Recherchiert“, hat Karl immer gesagt. Im Fernsehen kann man es jeden Tag sehen und sie hat genau hingeschaut und viel dabei gelernt. Wie man in den Raum tritt: aufrecht, mit zielstrebigem Schritt und entschlossenem Blick. Wie man wieder hinausgeht. Auch das Timing, wie sie es nennen. Sie muss ja sofort in einen Bus steigen können, kann nicht an der Haltestelle stehen bleiben. Lange auf einen Bus warten kann sie nicht, das ist klar. ...


Bernhard Schader, Jahrgang 49, Pädagoge und Psychologe, lebt in Mannheim und schreibt – nach einigen fachlichen Veröffentlichungen – mit Vorliebe Kriminelles, lässt sich aber gelegentlich auch auf andere Felder locken. Mitglied im Literaturverein „Räuber 77“ und im „Literarischen Quadrat“.


Freitag, 6. Juli 2012

Grenzgängerin Petra Scheuermann: Na dann, Prost!


Petra Scheuermann erkundet Grenzbereiche zwischen Alltagsleben und Suchterfahrung. Ihre Kurzgeschichte "Na dann, Prost!" wird sie am 14.07.12 im Mannheimer theater oliv vorstellen.
Hier eine kurze Leseprobe:


„In Anna brannte der Hass auf ihren Vater wie hohes Fieber. Sie schlug die Tür ihres Zimmers hinter sich zu und bereute keine Glastür zu haben, das Bersten und Klirren des Glases hätte ihr etwas Genugtuung verschafft. Quer auf ihrem Bett liegend flennte sie Rotz und Wasser. Immer wieder sah sie die leuchtenden Augen Bennos vor sich, als ihm ihr Vater die Kakteenableger schenkte. „Dein Vater ist aber nett“, hatte Benno gesagt.

Benno ist tot, dachte sie. Morgen wollte er vorbeikommen, um sechzehn Uhr. Er wird nicht kommen. Er wird niemals mehr kommen. Er ist tot. Ich werde ihn nie mehr wieder sehen. Und ich werde nicht erfahren, was Benno mir sagen wollte. Niemals!

Erst im dritten Blumenladen gelingt es Anna einen Strauß Margeriten zu erstehen, er ist groß und wunderschön. Natürlich hätte sie auch andere Blumen kaufen können, Gerbera zum Beispiel. Aber sie hatte sich in den Kopf gesetzt, es müssten Margeriten sein.

Bennos Grab liegt nur zwei Meter vom Grab seiner Freundin Sonja entfernt. Die Hälfte des Margeritenstraußes stellt sie in die Vase, die fest in Bennos Grab eingelassen ist, die restlichen Blumen legt sie auf Sonjas Grab.

An einem Sonntagmittag stand Benno unerwartet bei Anna zu Hause vor der Tür, als sie gerade zu Leo aufbrechen wollte. Er war ein ungebetener Besucher, der ihr eher lästig war. Nicht, dass sie etwas gegen Benno gehabt hätte, er war Leos Freund und bislang hatte sie sich nicht sehr viele Gedanken über ihn gemacht. Er war dick, der einzige dicke Junkie, den sie kannte. Der Kopf auf seinem Körper erweckte den Eindruck, als sei ein kleines Quadrat auf ein großes Quadrat genagelt worden. Vielleicht war das der Grund, warum all seine Bewegungen etwas Linkisches hatten. Sein Blick war unstet und suchend, als würde er jederzeit mit einem Angriff aus dem Hinterhalt rechnen.“



Biographische Notiz

Petra Scheuermann, geb. 1959 in Frankenthal/Pfalz, Dipl.-Sozialarbeiterin, Heilpädagogin und Erzieherin, mehrere Veröffentlichungen in Anthologien, eine Kurzgeschichte wurde 2011 – 2012 vom Theater Oliv im Rahmen der Kurz-Stücke-Theaterrevue „Warum Mannheim?“ aufgeführt, 2012 und 2011 ausgezeichnet mit einem Literaturpreis der „Buchmesse im Ried“ in Stockstadt am Rhein, 2. Vorsitzende des Literarischen Zentrums Rhein-Neckar e.V. „Die Räuber ´77“ und Mitglied der Autorinnengruppe „Mörderische Schwestern“, weitere Informationen: www.petrascheuermann.de








Na dann, Prost!, in: Geschlossene Gesellschaft?, Getaway e.V. (Hg.),
München, Juli 2011. ISBN: 978-3-00-035200-3



Inhalt

Anna steht am Grab von Benno, der an einer Überdosis Heroin starb, und erinnert sich. Die Geschichte handelt von Drogen, Liebe und Freundschaft, thematisiert wird aber auch die Doppelmoral unserer Gesellschaft, in der viele – auch Eltern – selbst gerne und reichlich Alkohol konsumieren, den Benutzern illegaler Drogen aber sehr ablehnend gegenüber stehen.



Donnerstag, 5. Juli 2012

Grenzgänger Peter Metz: Hey Ba Ba Re Bob


Peter Metz überschreitet Grenzen - geographische, berufliche, künstlerische... Am 14.07.12 wird er sein Schweizer Exil verlassen, um auf der KultTour Mannheim seinen neuen Text "Hey Ba Ba Re Bob" zu präsentieren.
Hier zwei seiner älteren Werke (der zweite Text ist gekürzt):


Novemberbriefe

Der Mann trägt Briefe zur Post. Es ist November. Durchs Einkaufszentrum weht ein kalter, peitschender Wind. Mit klammen, schmerzenden Fingern hält der Mann die Briefe krampfhaft fest. Er stemmt sich verzweifelt gegen den schneidenden Wind. Es sind Briefe für Gefangene. An den grauen Betonquadern des Einkaufszentrums vorbei erreicht er das Postgebäude mit den vergitterten Fenstern. Er zieht seine Nummer. Die Finger klammern sich um die Umschläge. Darin sind Briefe gegen die Generäle, Briefe für die Gefangenen. Seine Nummer erscheint rot leuchtend auf dem Display. Er begibt sich zu Schalter C.

„Dreimal A – Post nach Übersee“, sagt er.

Die Frau hinterm Schalter unterbricht kurz ihr routiniertes Stempeln und schaut auf die Adresse: „Dort ist es jetzt schön warm“, sagt sie.



Die Wunderblume


In die stille Strasse in Käfertal – Süd mit ihren Einfamilienhäuschen und Vorgärten bog ein alter, reichlich ramponierter, orangefarbener FIAT Mirafiori ein. Zwischen parkenden Autos war gerade genug Platz für die schwere Limousine, aus deren halb geöffneten Fenstern laute, Reverb – überfrachtete Rockabilly – Gitarren dröhnten.

Plötzlich schlug etwas von unten dumpf – metallen an den Fahrzeugboden. Der Fahrer des Wagens, ein langhaariger junger Mann, bremste, so schnell ihm das in seinem intoxikierten Zustand möglich war. Seine Begleiterin schaute ihn an, er schaute seine Begleiterin an, sie beide schauten durch das Heckfenster auf die stille Strasse. Im schwachen Schein der Strassenlaternen war ein schwarzer Gegenstand zu erkennen – ob ein lebloses Ding oder ein totes Tier, war nicht auszumachen.
Die beiden stiegen aus. Während sie sich ehrfürchtig dem rätselhaften Gegenstand näherten, tauschten sie immer wieder fragende Blicke aus. Als der junge Mann nahe genug heran gekommen war, erkannte er, dass es sich um einen schwarzen, metallenen Gegenstand handelte. Niederkniend hielt der junge Mann seine Hand über das schwarze Ding. Es war noch warm. Er entzündete mit angehaltenem Atem ein Feuerzeug, um den Gegenstand näher zu betrachten. Eine Aufschrift in italienischer Sprache war erkennbar: „Magneti Marelli Torino“.
Es war kein Zweifel möglich: es gehörte zu seinem Auto. Er hob den Gegenstand behutsam an. Ja, er war noch warm, er war aus Italien, er war aus Metall und er war schwer. Er ging zurück zu seinem Auto, öffnete die Kühlerhaube und tatsächlich: da fehlte offensichtlich ein Teil. Erstaunt stammelte der junge Mann: „Das muss meine Lichtmaschine sein“.
(...)


Peter Metz wurde am 15. September 1962 in Mannheim geboren und lebt seit 1998 in der Schweiz. Von 1984 – 1992 Studium der Politik und Geschichte an der Universität Mannheim, von 1995 - 1997 Ausbildung zum Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an der Freien Hochschule für Anthroposophische Pädagogik in Mannheim. Arbeit als Journalist, Fliessbandarbeiter, Bierkutscher, Bürobote und seit 1998 als Lehrer für Deutsch, Geschichte und Theater an verschiedenen Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz. Lesungen, Vorträge zu künstlerischen, historischen und pädagogischen Themen. Peter Metz ist verheiratet und hat einen Sohn.

Auszeichnungen:
2004: Mannheimer Literaturpreis für „ Astmanns Vision“, der gleiche Text erschien 2007 in „30 Jahre Die Räuber 77“, hrsg. Von Roswitha Spodeck – Walter, Klaus Walter, Adolf Kutschker, Verlag Vorwerk 8, Berlin, 2007. ISBN 978-3-930916-99-3


Mittwoch, 4. Juli 2012

Grenzgänger Wilhelm Dreischulte: Fremdes Brot


Wilhelm Dreischulte überschreitet Grenzen der Zeit. Bei der Lesung im Mannheimer theater oliv (14.07.12., ab 19:00 Uhr) wird er aus dem Leben einer 93jährigen Frau berichten und somit längst vergangene Epochen wieder lebendig machen.
Hier zwei kurze Ausschnitte:


Erdbeben

Als die Frau sechs Jahre alt war, rüttelte und schüttelte es. Bilder flogen von der Wand, sogar dasjenige mit den beiden Engeln, Fensterscheiben zerschellten und Isidor und die Mutter der Frau, sie hieß Ernestine, trieben die Frau und ihre Schwester nach draußen auf den Innenhof. Es war fantastisch. Alle Nachbarn kamen zusammen und waren still, die Erde bebte nicht mehr, und schon fingen sie wieder an zu reden. Erst langsam, dann immer lauter und schneller.

Faszinierend war das für die Frau genauso, als sie später abends auf den benachbarten Berg lief und dem Ersten Weltkrieg zuschaute. Sie sah es in der Ferne immer wieder aufleuchten. Das waren die Bomben und Granaten von den Deutschen und den Franzosen. Hören konnte sie nichts.


Alltägliches früher

Einmal im Monat kam der Seifenmann. Er klingelte die Leute aus dem Haus und verkaufte Seifenpulver und Seife. Irgendeine Überraschung war immer dabei, einmal ein Goldarmbändchen, versteckt im Seifenpulver. Die Frau durfte es zunächst tragen. Doch sobald Isidor sie damit sah, nahm er es ihr wortlos ab.
Wie der Seifenmann, so kam auch der Milchmann. Der Milchmann kam allerdings täglich und klingeln brauchte er auch nicht. Denn die Milchtöpfe standen bereits auf den Treppenstufen vor dem Haus. Samstags lag Geld für ihn unter dem Topf. Wenn die Mutter der Frau mal mehr Milch als gewöhnlich wollte, heftete sie einen Zettel an den Topf.
Für die tägliche Milch war also gesorgt. Die Frau verabscheute Milch. Jeden Morgen musste sie ein Glas trinken, da sie als blutarm galt. Eisern wachte ihre Schwester darüber. Trank sie ihre Milch nicht, schwärzte die Schwester sie bei Isidor an und Isidor schlug sie.



Wilhelm Dreischulte: Fremdes Brot

Erinnerungen einer 93jährigen Frau
2009; ISBN 978-3-931382-44-5 / 138 S. / 12,80 EUR
Seidler Verlag

N. ist der 93-jährigen Frau als Pfleger zugeteilt. »Sie können mich alles fragen«, sagt sie zu ihm. In vielen kurzen Episoden wird der Leser mitten hinein versetzt in eine Lebenswelt der Erinnerung, die sich mosaikartig aus der Vergangenheit erschließt und durch ihre scheinbare Unvollständigkeit Raum lässt für die eigene Fantasie, das Gelesene fortzudenken.


Biographische Notiz
Wilhelm Dreischulte wurde 1965 in Haselünne/ Emsland geboren. Nach dem Abitur folgten Zivildienst, Jobben und Reisen. Lange Jahre lebte er in Freiburg und widmete sich neben dem PH-Studium der Malerei und dem Schreiben. Seit 2001 ist er als Lehrer in Heidelberg, Landau und in Höchst i. Odw. tätig.


Dienstag, 3. Juli 2012

Grenzgänger Jancu Sinca: Das Ereignis


Jancu Sinca ist einer der Autoren, die sich am 14.07.12 im Mannheimer theater oliv in literarische Grenzregionen begeben werden (Beginn: 19:00 Uhr). Er stellt seine Kriminalnovelle Das Ereignis vor.

Ein kurzer Blick auf den Inhalt:

Ein Bibliotheksangestellter hat die undeutliche Erinnerung, am Fluss den Hilfeschrei einer Frau gehört zu haben. Als die Leiche einer jungen Frau gefunden wird, fühlt er sich verantwortlich, weil er dem Schrei nicht nachgegangen ist. Die Tote war eine Kollegin. Sie wollte die Stadt verlassen, und er hatte sich noch einmal mit ihr treffen wollen, um ihr seine Liebe zu gestehen und sie zum Bleiben zu bewegen. Was geschah tatsächlich an jenem Abend? Der Protagonist verstrickt sich immer tiefer in ein Gespinst aus Erinnerung, Verdrängung und Fantasie.


Leseprobe:
(...)
Dir fällt nur Silvias Gesicht ein. Und wenn du an das Geburtstagsfest denkst, fragst du dich, wie sich wohl das Abschiedsfest von Silvia entwickeln wird. Du stellst dir vor, daß zu Beginn billiger Sekt verteilt wird. Die Kollegen unterbrechen ihre Arbeit und nehmen sich jeder ein Glas. Dann wird ein allgemeines Geplauder entstehen. Du wirst versuchen, zu Silvia vorzudringen, um mit ihr ein paar Worte zu wechseln. Aber es wird dir nicht gelingen, weil sich um sie herum eine dichte Gruppe Kollegen gebildet hat, die auf sie einreden, ihr Ratschläge mit auf den Weg geben wollen. Aber auch Fragen werden auf sie niederprasseln, was sie in nächster Zeit machen wird, ob sie sich schon an der Universität eingeschrieben hat, was sie denn studieren will, was wieder mit Ratschlägen begleitet sein wird, was sie denn am besten zu studieren habe und anderes mehr. Keiner wird von ihr ablassen, so daß du, auch wenn du dich dieser Gruppe hinzugesellt haben wirst, kein persönliches Wort mit ihr wechseln kannst. Dann wird jeder sein zweites Glas Sekt nehmen, bis schließlich der Direktor um Stille bitten wird, um ein paar offizielle Abschiedsworte zu sprechen. Nach einiger Zeit wird dann auch Ruhe eintreten und der Direktor wird sich räuspern, um mit »Sehr geehrte Damen und Herren ...« anzusetzen. Dann wird er eine kleine Pause machen, um fortzufahren: »wir sind heute hier alle zusammengekommen, um eine unserer jüngsten und befähigsten Mitarbeiterinnen aus unserer Mitte zu entlassen ...« Wieder wird er eine kleine Pause machen, um dann zu betonen: »... und das mit unserem tiefsten Bedauern, muß ich hinzufügen, und ohne unser eigenes Mitwirken, denn ...« Und auch hier wird er eine Pause machen, um fortzufahren: »... denn sie verläßt uns aus freien Stücken, um, wie ich gehört habe, ein Studium zu beginnen, um also ...« – die Pause ist unvermeidlich – »um also das zu tun, was ich jedem von unseren Mitarbeitern immer wieder empfehle, nicht, auch wenn die Arbeit noch so viel Zeit in Anspruch nimmt, nicht zu vergessen, sich weiterzubilden. Denn, um mit einem Worte Goethes zu schließen, es heißt doch so schön: ›Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.‹«
(...)


Biographische Notiz
Jancu Sinca, geboren 1965 in Dresden, aufgewachsen in Berlin, 1996 Magister an der Freien Universität Berlin in den Fächern Germanistik und Philosophie, lebt seit 1999 als freier Autor in Neckarsteinach. Mitglied der Autorengruppe ›Literarur-Offensive‹. Weitere Publikationen: 2008 erschien der Lyrikband ›Das Kratzen auf dem Blatt‹, 2009 war er Mitautor bei dem Romanprojekt ›Nebelkopfhütte‹. Veröffentlichungen in Anthologien, Lesungen im Rhein-Neckar-Raum.


Jancu Sinca: Das Ereignis
Kriminalnovelle
Regionalkrimi, spielt in Neckarsteinach, bearbeitete Neuauflage 2012.
ISBN 978-3-931382-37-7 / 89 S. / 10,80 EUR  Seidler Verlag