Sonntag, 9. Oktober 2011

Kurzgeschichte des Monats

Die Kurzgeschichte des Monats Oktober stammt von Lothar Seidler:


Der Besuch


I.

Der Morgen war wie üblich. Bevor ich in die Redaktion ging, brauchte ich noch den Kugelschreiber. Ich vermutete ihn unter dem Schreibtisch und bückte mich. Der Stift lag neben einem merkwürdig staubfreien Rechteck von etwa einem viertel Quadratmeter Größe, das sich links vom Stuhl befand. Ich hob das Schreibgerät auf und ging zur Sitzung.


II.

Abends saß ich am Schreibtisch. Der leere Bildschirm des Computers blickte mich an. Hier sollte jetzt Text entstehen, so daß ich den Blick erwiderte. Die Redaktion wünschte sich eine literarisch-kulturelle Betrachtung für das Feuilleton – ›Hat Goethe ausgedient?‹. Da unter dem Stapel unaufgefordert eingesandter Manuskripte nichts Passendes zu finden war, hatte ich den Auftrag erhalten. Die Ideen weigerten sich jedoch standhaft, aus dem Zettelkasten oder aus den Tiefen meines Gehirns hervorzusprudeln. So fiel mein Blick wieder auf das Rechteck neben dem Schreibtisch, in dem jetzt eine kleine fahlgrüne Kugel lag. Ich nahm sie mit zwei Fingern auf. Sie hatte die Größe einer Erbse und fühlte sich auch so an. Achtlos legte ich sie auf den Schreibtisch. Da eine Idee weiterhin ausblieb, kam ich auf den Gedanken, wieder einmal den Teppichboden abzusaugen. Die staubfreie Fläche war wahrscheinlich dadurch entstanden, daß dort längere Zeit ein Karton herumgestanden war. Allerdings konnte ich mich daran nicht so recht erinnern. Den Computer schaltete ich aus. Ich rechnete damit, daß mir eher dann etwas Sinnvolles einfiel, wenn ich es nicht sofort eintippen konnte.
Schließlich erfüllte das gleichmäßige Brummen des Staubsaugers den Raum, den ich in langen Bahnen durchzog. Als ich in die Nähe des Schreibtischs gelangte, lag die Kugel wieder auf dem Boden. Sie war offenbar von der Platte heruntergerollt und in die staubfreie Fläche gefallen. Unter das Motorgeräusch mischte sich das Telefon. Als ich abhob, meldete sich Pierre, der unbedingt die neue Trendkneipe testen wollte. Da mir die Saugerei auf die Nerven ging und ich immer noch keine Idee für den ausgedienten Goethe hatte, sagte ich zu. Bevor ich ging, warf ich die Erbse in den Papierkorb.
Bei meiner Rückkehr hatte ich zwar immer noch keinen Einfall, aber ein paar Eindrücke von der Kneipe und von Pierres Gerede. Beides wollte ich wenigstens auf einer Karteikarte festhalten, um es später einmal zu verwenden. Als ich zum Schreibtisch kam, sah ich auf den Boden. Meine Reinigungsbemühungen von vorher endeten in der Nähe des ominösen Rechtecks, und dort lag schon wieder die Erbse. Offenbar hatte ich den Papierkorb verfehlt, so daß sie auf dem Teppich gelandet war. Jetzt hatte ich aber genug davon. Trotz der unbürgerlich späten Stunde beschloß ich, den Staubsauger noch einmal zu bedienen. Ich stülpte das Rohr über die Erbse und schaltete das Gerät ein. Das klickende Geräusch im Schlauch zeigte an, daß die Erbse ihren Weg in den Staubfänger genommen hatte. Als ich das Rohrende anhob, lag sie unverändert an ihrem Platz. Also wiederholte ich den Vorgang. Wieder hörte ich das Geräusch der Erbse. Während der Staubsauger noch lief, meldete sich das Telefon. Ich schaltete den Sauger ab und nahm den Hörer. Ein pfeifendes Geräusch empfing mich, ähnlich dem eines Fax-Geräts. Bevor ich auflegen konnte, hörte ich eine undefinierbare hohe Stimme, von der sich nicht sagen ließ, ob sie männlich oder weiblich war:
»Lassen Sie das!«
»Wer spricht da?« fragte ich.
»Ein Name würde Ihnen nichts erklären. Aber ich fürchte, Sie müssen eine geringfügige Einschränkung innerhalb der von Ihnen beanspruchten Koordinaten hinnehmen. Ein Bruchteil von 0,38 Prozent ist gewissermaßen in meinen Besitz übergegangen. Sie würden wahrscheinlich sagen, es erfolgte durch eine Art Preisausschreiben, das dort stattfand, wo ich herkomme. Dorthin werde ich jetzt zurückkehren, um noch ein paar notwendige Dinge zu holen. Dann auf gute Nachbarschaft.«
Es knackte in der Leitung, die Verbindung war unterbrochen. Wahrscheinlich hatte sich tatsächlich jemand durch das Staubsaugergeräusch stören lassen. Der Mensch besaß allerdings eine merkwürdige Art von Humor. Die Erbse war jedenfalls endlich verschwunden. Da ich auf anonyme Anrufe nicht zu reagieren pflege, reinigte ich gleich die ganze Wohnung. Das Rechteck neben dem Schreibtisch unterschied sich nun nicht mehr von dem übrigen Teppichboden. Ich ging zu Bett.


III.

Am nächsten Morgen. Ich lag neben dem Schreibtisch auf dem Bauch. In dem Rechteck auf dem Boden war der Teppich verschwunden. Statt dessen befand sich dort eine glatte Fläche in dem ursprünglichen Beigegrau. Darauf lagen kleine geometrische Körper – verschiedene Quader, Würfel und Zylinder – unregelmäßig verstreut wie Bauklötze. Sie hoben sich nur durch ihre Form vom Untergrund ab. Mein Blick war auf die Erbse gerichtet, die zwischen den Gegenständen hin und her huschte. Schließlich überwand ich meine gebannte Lähmung und berührte die kleine fahlgrüne Kugel, die sofort stehenblieb. Das Telefon gab Alarm. Ich versuchte, es zu ignorieren, aber es ließ nicht locker. Schließlich riß ich mich von dem Bild los und nahm den Hörer ab. Erst ertönte dasselbe Pfeifen wie am Tag zuvor, dann sagte die geschlechtslose Stimme:
»Lassen Sie das!«
Stumm starrte ich auf das Rechteck.
»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Macht nichts. Wir schließen am besten ein Abkommen. Sie lassen mich in Ruhe und ich Sie.«
»Spreche ich mit der kleinen grünen Kugel?«
»Es ist durchaus möglich, daß ich in Ihrer optischen Wahrnehmung so erscheine.«
»Was soll das Ganze?«
»Wie ich schon einmal ausführte, ein minimaler Anteil Ihrer beanspruchten Fläche gehört jetzt mir. Und diesen kann ich nutzen, wie es mir beliebt.«
»Wer sagt, daß Ihnen der gehört?«
»Ich habe eine Urkunde.«
»Wer soll denn die ausgestellt haben?«
»Die Einzig Zuständige Behörde.«
»So ein Quatsch.«
»Sagen Sie das nicht. Die Behörde ist für alle Koordinaten zuständig, die erreichbar sind und bei denen es Sinn macht, sie zu erreichen. Aber das ist ein ausgedehnter Bereich. Und darum ist die Behörde auch ziemlich groß ...«
»Das klingt ja interessant. Dann bis später mal.«
Ich legte auf. Inzwischen war mir ein Verdacht gekommen. Zwar schien kein rechter Sinn dahinter zu sein, aber hier hatte sich wohl ein übereifriger Elektronikbastler, der irgendwie in meine Wohnung gelangt war, einen Scherz erlaubt. Da die Apparatur auf eine direkte Berührung reagierte und ich nicht wissen konnte, was noch für Überraschungen darin verborgen waren, holte ich ein scharfes Messer. Damit schnitt ich den Teppichboden im Abstand von einer Handbreite um das Rechteck herum auf. Die Erbse flitzte unbeeindruckt zwischen den Quadern, Würfeln und Zylindern hin und her. Nachdem ich das rahmenförmige Teppichstück entfernt hatte, mußte ich feststellen, daß das Rechteck genau mit der Oberfläche des Estrichs abschloß, der sich unter dem Teppichboden befand. Steckte demnach der Mechanismus, der die Erbse antrieb, im Boden oder sogar in der darunter liegenden Wohnung? Ich kratzte mit dem Messer direkt neben der glatten Fläche ein Loch in den Estrich. Die Schicht in der Farbe des Teppichbodens mußte hauchdünn sein, da sie im Profil nicht zu sehen war. Bei meinem Versuch, das angemaßte Grundstück der Erbse zu unterhöhlen, brach die Klinge ab. Sie beschrieb einen hohen Bogen durch die Luft und landete mitten in dem Rechteck. Die Erbse blieb stehen.
Erwartungsgemäß meldete sich das Telefon. Im Hörer ertönte wieder das Pfeifen, gefolgt von der bekannten Stimme:
»Ihr Betragen ist eigenartig und höchst ungebührlich. Wir hatten doch ein Abkommen geschlossen!«
»Das beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Ich dulde keine beweglichen Erbsen in meiner Wohnung.«
»Ich nehme an, daß sich der letzte Satz auf mich bezieht. Ich liege jedoch singularisch und nicht pluralisch vor. Im übrigen möchte ich das Verfahren jetzt vereinfachen. Daher schlage ich vor, Sie versuchen einen der für Sie fremdartigen Gegenstände, die Sie hier erblicken, oder auch mich selbst zu zerstören. Gelingt Ihnen das, so werde ich Sie nicht mehr belästigen und das Grundstück in den ursprünglichen Zustand zurückversetzen. Im anderen Fall müssen Sie sich mit mir abfinden. Das Angebot gilt in Ihrer zeitlichen Dimension ab sofort, bis Sie aufgeben oder Erfolg haben.«
Die Erbse unterbrach die Verbindung. Sie war nicht mehr zu sehen.
Ich nahm die Klinge wieder aus dem Rechteck heraus und holte dann den größten Hammer und ein Stemmeisen aus der Werkzeugkiste. Damit machte ich mich ans Werk. Zuerst versuchte ich mit immer wuchtigeren Schlägen, einen der geometrischen Körper zu zerschlagen oder aus der Verankerung zu brechen. Das fremde Material zeigte jedoch nicht einmal einen geringfügigen Kratzer, genauso wenig wie die glatte Oberfläche des Rechtecks. Daher war es eher ein Akt der Verzweiflung, als ich die Schlagbohrmaschine anschloß. Obwohl schließlich der Motor heißlief und abschaltete, unterschied sich das Ergebnis durch nichts von dem vorherigen. Das Telefon meldete sich ein weiteres Mal.
»Wollen Sie das Haus abreißen?«, fragte eine Frauenstimme.
»Nein, nein, ich bin schon fertig.«
»Dann ist ja gut.«
Es knackte in der Leitung. Bevor ich ebenfalls auflegen konnte, sprach die Erbse im Hörer:
»Darf ich jetzt ungestört hierbleiben?«
»Bleibt mir wohl nichts anderes übrig, aber im Keller ist viel mehr Platz. Außerdem stört es mich dort nicht.«
»Dazu hat aber die Einzig Zuständige Behörde keine Zustimmung gegeben.«
»Die hat hier bestimmt keine Bedeutung.«
»Behörden definieren ihre Kompetenz durch sich selbst.«
»Wie kommt diese Behörde eigentlich dazu, in fremden Wohnungen Grundstücke zu vergeben. Früher nannte man das Kolonialismus.«
»Ein höchst komplexer Begriff, der hier nicht unbedingt anwendbar ist, da nicht ein anderes Kollektiv daraus Nutzen ziehen will, sondern nur ich persönlich.«
»Diese Diskussion wäre noch zu führen. Immerhin war ich zuerst da.«
»Was heißt das, zuerst?«
»Ich bin schon einige Zeit hier, während Sie erst jetzt aufgetaucht sind.«
»Verstehe, aber da die Zeit wie jede andere Koordinate willkürlich wählbar ist, tut das nichts zur Sache.«
»Bei mir schon.«
»Daran kann ich nichts ändern.«
»Ich nehme an, daß ich jetzt ein außerirdisches Wesen in der Wohnung habe.«
»Wenn Sie so wollen.«
»Habe ich nun, oder habe ich nicht?«
»Da ich mich hier aufhalte, bin ich nicht außerirdisch.«
»Das ist Ansichtssache.«
»Für mich nicht.«
Ich wechselte das Thema:
»Bleiben Sie länger?«
»Ich denke schon. Und nachdem die Formalitäten geklärt sind, möchte ich mich abermals den wichtigen Dingen zuwenden. Guten Tag.«
»Halt!« rief ich in das Knacken im Hörer, aber die Erbse hastete bereits wieder von einem Bauklotz zum anderen.
Trotz allem hatte ich jetzt eine Sensation auf dem eigenen Teppich, und dies gedachte ich auszunutzen. Als erstes photographierte ich die rechteckige Fläche mit dem dahinrasenden Erbsenwesen, das sich durch die Blitze nicht beeinträchtigen ließ, aus allen denkbaren Blickwinkeln. Eine Filmaufnahme wäre natürlich besser gewesen. Da fiel mir Pierre ein. Als ich ihn anrief, war er zu Hause.
»Ich brauche sofort dich und eine Videokamera.«
»Wofür?
»Ich möchte ein paar Bewegungsstudien durchführen, und es eilt!«
»Das geht jetzt aber nicht.«
»Wann dann?«
»Heute abend um sieben.«
»Hast du auch etwas, um ein Telefongespräch aufzuzeichnen?«
»Was hast du bloß vor?«
»Betriebsgeheimnis.«
»Klingt ja beinahe spannend. Jedenfalls bringe ich alles mit.«
»Aber pünktlich.«
Wir legten auf. Da ich nicht wissen konnte, ob der Außerirdische nicht demnächst wieder in die Tiefen des Alls verschwinden würde, mußte ich jetzt improvisieren. Mit Klebestreifen befestigte ich vor der Hörmuschel des Telefons ein Mikrophon, das ich an den Kassettenrekorder anschloß. Über Kopfhörer konnte ich so verstehen, was der Außerirdische sagen würde, während gleichzeitig alles aufgezeichnet wurde. Meine eigene Stimme wäre dann zwar auf dem Band nicht zu hören, was jedoch nicht so sehr störte. Um angerufen werden zu können, legte ich statt des Hörers den Hammer auf die Telefongabel.
Jetzt fehlte nur noch eine Kontaktaufnahme, allerdings hatte mir der kleine Grünling seine Telefonnummer nicht mitgeteilt, und die Auskunft hätte mein Anliegen sicher nicht verstanden. Ich berührte das Wesen mit dem Zeigefinger. Es lief einfach weiter. Also holte ich das Buch mit Goethes Gedichten in zeitlicher Reihenfolge und stellte es mitten zwischen die Bauklötze. Augenblicklich war das Zimmer von einem grellen Pfeifen erfüllt, das aus den Wänden, der Decke, dem Fußboden und auch aus jedem Möbelstück drang. Ich hielt mir die Ohren zu, denn ich hatte nicht einmal den Kopfhörer aufgesetzt. Als ich den Griff vorsichtig lockerte, hörte ich die Stimme des Außerirdischen:
»Entfernen Sie das bitte, sonst muß ich es tun!«
Die Konturen des Buchs begannen zu verschwimmen.
»Halt!« rief ich ein weiteres Mal.
Das Buch mit Goethes Gedichten in zeitlicher Reihenfolge bekam wieder seine festen Umrisse. Ich nahm es aus der Gefahrenzone, da ich wenigstens nicht auf diese Weise darauf verzichten wollte. Allerdings fragte ich mich, über welche Fähigkeiten die Erbse sonst noch verfügte. Technisch gesehen, hatte sich die Lage immerhin vereinfacht. Ich entfernte das Mikrophon vom Telefonhörer und schaltete den Rekorder ein.
»Gute Idee, nicht mehr das Telefon zu benutzen«, begann ich das Gespräch.
»Ich wählte diese andere Art der Kommunikation, da sie mir adäquater erscheint.«
»Wie funktioniert es?«
»Transponierte Exaltationen von Materie.«
»Aha. Und was bedeutet das?«
»Ein technischer Begriff, weiter nichts.«
»Nein, ich meine, wie funktioniert die Technik?«
»Die Materie wird transponiert exaltiert.«
»Darf ich eine andere Frage stellen?«
»Um Ihnen Zeit zu ersparen, nein.«
»Aber es ist wichtig.«
»Wichtigkeit ist ein relativer Begriff.«
Im Zimmer knackte es wie im Telefon. Als sich nichts weiter regte, schaltete ich den Rekorder wieder aus.


IV.

Bis zum Abend hatte das Wesen keinen Laut mehr von sich gegeben, meine gelegentlichen Rufe hatte es ignoriert. Die kleine Kugel huschte weiterhin unregelmäßig über das Rechteck. Während ich auf Pierre wartete, bekam ich Hunger. Ich stellte einen Teller mit Radieschen vor mich hin und blätterte dann in dem Gedichtband. Bei einem der fahrigen Griffe zum Teller rollte ein Radieschen zu Boden. Ich bückte mich und sah, daß es zwischen den Bauklötzen des Außerirdischen gelandet war. Bevor ich es aufheben konnte, verschwand es.
»Hallo!« rief ich, aber die Erbse antwortete nicht.
»Hallo! Mein Radieschen!«
Eigentlich hatte ich auch keine Reaktion erwartet. Mechanisch blätterte ich weiter in Goethes zeitlich sortierten Gedichten. Als ich gerade die Widmung an einen Schreibtisch las, ertönte das bekannte Pfeifen des Außerirdischen aus der Wand und dann dessen Stimme:
»Kann ich noch eins bekommen?«
»Was?«
»Soweit ich weiß, nennen Sie es Radieschen.«
»Nur dann, wenn ich ein paar Fragen beantwortet bekomme.«
»Zuerst das Radieschen!«
Ich schaltete den Rekorder ein.
»Was ist daran so interessant?«
»Für eine Manifestation von gewöhnlicher Materie hat es eine höchst ungewöhnliche Isotopenzusammensetzung.«
»Was bedeutet das?«
»Jetzt habe ich die Frage für das erste Radieschen beantwortet, also möchte ich nun das zweite.«
»Die Antwort reicht nicht. Außerdem habe ich noch viel mehr Fragen. Zum Beispiel, was einen Außerirdischen dazu bewegt, auf dieser für ihn fremden Welt zu siedeln. Nach Beantwortung der Frage gibt es wieder ein Radieschen.«
»Ich bin nicht außerirdisch. Und wenn ich nicht sofort ein Radieschen bekomme, beantworte ich überhaupt keine Fragen mehr. Nebenbei ist Neugier unhöflich!«
Ich legte ein Radieschen neben die Erbse, die bei einem der Zylinder stand. Das Radieschen verschwand sofort. Ich wartete auf eine Äußerung des Außerirdischen, der keiner sein wollte, aber ich wartete vergeblich.
»Was ist jetzt mit der Antwort?« fragte ich nach einer Weile in Richtung auf das Rechteck, wo die Erbse immer noch an derselben Stelle stand. Genauso gut hätte ich in das kosmische Vakuum hineinrufen können. Während ich die kleine Kugel anstarrte, veränderte sich ihre Farbe von fahlgrün zu lindgrün und wieder zurück. Sie begann, zwischen verschiedenen Grüntönen hin und her zu wechseln. Schließlich setzte sie sich in Bewegung, allerdings im Kriechgang. Sie schien zu torkeln.
»Radieschensaft ...« sang es aus dem Schreibtisch. »Radieschensaft ... der ist gesund ... und der gibt Kraft ...«
»Was ist jetzt mit der Antwort?« wiederholte ich.
»Antworten sind ... Schall und Rauch ...«
Der Außerirdische war betrunken, berauscht von irdischen Radieschen. Hoffentlich machte er keine Dummheiten. Die Türklingel kündigte an, daß Pierre gekommen war.

(..)


Entnommen aus:
Lothar Seidler  Der Zufallskurier
Er erreicht oder verfehlt immer sein Ziel. Die Frage ist, welches.

Biografische Notiz:
Lothar Seidler, geboren 1957 in Nürnberg, promovierter Diplombiologe, übersetzt und lektoriert freiberuflich molekularbiologische Fachbücher, schreibt vor allem (Kurz-)Prosa mir einem gewissen Hang zum Absurden. Begründer und Inhaber des kleinsten Verlagshauses in Heidelberg.

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