Staat ohne Land
Der alte Mann
bat seine Kinder und Enkel, Platz zu nehmen. Er selbst saß bereits seit Jahren
im Rollstuhl, und er wusste, ihm würde nicht mehr viel Zeit bleiben. Deshalb
verkündete er nun endlich seinen Plan: Er wolle einen neuen Staat gründen.
Die Kinder
und Enkel lachten darüber. Es gab doch gar kein freies Land mehr, erinnerten
sie ihn. Damit der Plan gelänge, müsste man eine Insel im Meer aufschütten oder
mit einem anderen Staat einen Krieg beginnen, um dessen Land zu rauben. Doch
dafür fehle dem alten Mann die nötige Armee, sagte einer der Söhne. Und sie
zählten noch mehr Dinge auf, an denen es mangelte: eine Industrie, zur
Versorgung der Truppen mit Waffen und Munition, ein Behördenapparat, zur
Verwaltung des neuen Landes, dann müsste man Städte und Dörfer bauen, dazu
Verkehrswege, um die Ortschaften miteinander zu verbinden, und natürlich bräuchte
man eine Landwirtschaft, Energieversorger, Telekommunikation, und ein bisschen
Kultur wäre auch nicht schlecht, vielleicht ein paar Theater und Museen.
Der alte Mann
fragte die Kinder und Enkel, ob sie nicht etwas vergessen hätten. Sie sagten
nein, alles Wesentliche sei genannt worden.
Die Menschen
fehlen, sagte er. Das Volk. Genau das sei das Besondere an seinem neuen Staat, er
hätte ein Volk – aber kein Land. Jeder Mensch auf der Welt könne sich selbst
zum Einwohner des neuen Staates erklären. Vom ersten Moment an hätte er
Anspruch auf Unterhalt. Und zwar so viel, wie er zum Leben benötige. Der Staatsbürger
solle genügend Geld bekommen für Essen, Kleidung, Wohnen und
Gesundheitsvorsorge. Dabei müsse er seine angestammte Heimat aber nicht
verlassen.
Die Kinder
und Enkel dachten einen Moment nach – und wieder brachen sie in Gelächter aus.
Auch das sei unmöglich umzusetzen. Dann würde doch niemand mehr arbeiten,
sagten sie. Falsch, erwiderte der alte Mann, man müsse die Arbeit nur anders
gestalten, sie solle Freude statt Frust bereiten. Außerdem deckten die
Unterhaltszahlungen ja nur den Mindeststandard. Wer mehr Geld haben wolle, müsse
eine entsprechende Mehrleistung erbringen, so wie bisher auch.
Eine Enkelin
fand die Idee eigentlich gar nicht so schlecht. Angenommen, sagte sie, es gäbe
so einen Staat tatsächlich. Dann müsste sich kein Mensch mehr Sorgen um seine
Zukunft machen, darüber, ob er morgen noch einen Arbeitsplatz besäße, ob seine
Wohnung sicher sei, oder ob er genügend Essen für die Familie auf den Tisch
bringen würde. Niemand müsste mehr hungern. Niemand müsste stehlen, niemand
müsste sich prostituieren, um zu überleben. Niemand müsste seine Heimat
verlassen und sich auf eine gefahrvolle Reise in ein fremdes Land begeben, in
dem er nicht willkommen ist. Weniger Menschen würden Drogen nehmen, um
einer hässlichen Wirklichkeit zu entfliehen. Die Menschen hätten mehr freie Zeit. Und
mehr Energie. Anstatt sich auf die reine Sicherung ihrer Existenz zu
konzentrieren, könnten sie sich mit anderen Dingen beschäftigen. Viel mehr
Kinder würden die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Und obendrauf
eine gute Schulbildung, denn das Argument „Wir können uns das nicht leisten!“
wäre entkräftet. Welche Folgen hätte das wohl? Das Potenzial von Millionen,
sogar Milliarden zusätzlicher Menschen könnte genutzt werden, viele neue Ärzte,
Ingenieure, Wissenschaftler und Künstler würden die Welt bevölkern. Eine Flut
von Erfindungen und Entdeckungen würde sich über uns ergießen, dazu Kunstwerke
aller Art, und es würde weniger Krankheiten geben...
Moment,
Moment. Die Kinder und Enkel unterbrachen den alten Mann und die junge Frau.
Das sei ja alles schön und gut, aber auch eine sinnlose Spinnerei, denn der
Plan zur Gründung eines solchen Staates ließe sich niemals umsetzen. Wahrscheinlich
kämen aus der ganzen Welt Millionen Faulpelze herbeigelaufen, um das Geld
abzukassieren – und das wiederum würde hunderte Milliarden kosten, es
wäre also gar nicht zu finanzieren. Auf dieses Argument war der alte Mann
vorbereitet. Natürlich gäbe es zu Anfang einige Schwierigkeiten, gewiss würden
sich viele potenzielle Staatsbürger melden und das Kapital knapp bemessen sein.
Deshalb müssten die ersten Staatsbürgerschaften verlost werden. Außerdem hätten bereits
einige Milliardäre ihre Absicht bekundet, ihr Vermögen zu spenden, zur Hälfte
oder vollständig, sofort oder nach ihrem Tod. Diese Leute müsse man in das
Projekt einbinden. Und um zu zeigen, dass es ihm, dem alten Mann, ernst war,
verkündete er, mit gutem Beispiel vorangehen zu wollen. Noch am selben Abend
wolle er dem neuen Staat sein Vermögen überschreiben.
Nun verging
den Kindern und Enkeln das Lachen. Dein Vermögen, fragten sie. Also das der
Familie? Also... unser Geld?
Ja, sagte er.
Unser Geld. Aber sie sollten sich keine Sorgen machen. Seinen Kindern und Enkeln
wolle er die ersten Staatsbürgerschaften erteilen. Sie würden also immer
genügend zu essen haben, dazu ein Dach über dem Kopf, und auch im Fall einer Erkrankung
könnten sie sich den Arzt und die Medikamente leisten.
Aber was ist
mit der Villa, den Autos und den Gemälden, fragten sie. Und den Aktien und
Wertpapieren? Und dem Bargeld, dem Schmuck und all den anderen Sachen?
Insgesamt ging es um Werte in Milliardenhöhe.
Das gehört bald alles dem neuen Staat, lautete die Antwort.
Die Kinder
und Enkel zogen sich zur Beratung in ein Nebenzimmer zurück. So geht das doch
nicht, sagten sie. Der Alte sei nicht mehr er selbst. Er habe sich
verändert, sei geradezu gemeingefährlich geworden. Man müsse ihn vor sich
selbst schützen. Und das Vermögen, das müsse man auch schützen, es gehöre
schließlich der Familie.
Ein Arzt muss
her, forderte eine Tochter. Der Geisteszustand des alten Herrn solle überprüft
werden. Und wenn nötig, müsse man ihn entmündigen. Alles sprach dafür, dass er
nicht bei Sinnen sei. Einen eigenen Staat gründen, so etwas machten doch nur
Verrückte. Was würde er wohl als nächstes tun? Wahrscheinlich vom Dach springen
und mit den Armen flattern wie ein Vogel. So etwas könne ja nur in der
Katastrophe enden.
Ein Sohn
schlug vor, eine Abstimmung zu machen. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: Alle
waren dafür, keine Gegenstimmen, keine Enthaltungen. Aber fehlte da nicht
jemand? Sie zählten rasch durch. Tatsächlich, eine Enkelin fehlte. Ausgerechnet
jene, die dem Alten vorhin zur Seite stand. Wo steckte er überhaupt? Die Kinder
und Enkel durchsuchten das Haus, fanden sie aber beide nicht. Auch im Garten
waren sie nicht, nicht im Schwimmbad, in der Sporthalle und im Wintergarten. Am
Garagentor hing ein Zettel. Darauf stand: „Wir sind schon mal
losgefahren. Ihr könnt ja später nachkommen.“
„Wohin?“,
fragten die Kinder und Enkel.
Autor: Elk von Lyck
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Unter diesem Link finden Sie das Konzept Staat ohne Land in sachlicher Form.
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