Sonntag, 23. November 2014

Das Chippendale - Kurzgeschichte von Heide-Marie Lauterer



Auf dem Balkon tanzt das Mädchen. Der Opa sieht es, braucht nicht mal seine Brille. Das Madl tanzt schön, es schaut zu ihm her. Der Opa winkt. Der Balkon ist klein, aber sie tanzt. Da kommt der Bruder und zieht das Mädchen in die Wohnung. Das Mädchen hat aufgehört zu tanzen. Immer kommt der Bruder und sperrt sie weg. Das nächste Mal, denkt der Opa, winke ich nicht. Er setzt seine Brille auf. Das Bein steht in der Ecke. Es hat einen alten Schuh am Fuß, eine gepolsterte Wade und einen harten Oberschenkel. Soll es in der Ecke stehen, denkt der Opa. In dem anderen Schuh steckt sein Fuß. Hat auch Vorteile, denkt der Opa, mit ein Paar Schuhen werde ich auskommen für den Rest. Er rollt zu seinem Schrank. Auf dem Boden steht eine Schuhschachtel. Er streckt den Arm aus danach und hebt den Deckel an. Ein Paar schöne neue, schwarze Schnürschuhe mit Ledersohlen, für jeden Fuß einen. Gut so. Sie sollen den Schuh ausziehen und den schönen Schnürschuh dranstecken und sie sollen das Bein zu ihm in den Sarg legen. Wird schon klappen. Anschnallen muss nicht sein, einfach nur dazulegen reicht. Als er die Schuhe gekauft hat, stand das Bein noch nicht in der Ecke. Das Mädchen auf dem Balkon gegenüber winkt. Das Madl tanzt nicht mehr. Es winkt, winkt ihn zu sich. Er kann nicht. Das Bein steht doch in der Ecke. Ohne Bein kann er nicht.
Sonntags haben sie immer das gute Geschirr genommen. Das mit dem Goldrand und den verschnörkelten Kaffeetassen. Nur sonntags, es sieht noch aus wie neu, aber eine Tasse ist zerbrochen. Die ist ihr aus der Hand gefallen. Das gute Geschirr stand im Chippendale. „Schippendäle“ hat sie gesagt. Es war was Besonderes. Ein Erbstück, und ein Erbteil für den Jungen. „Das Schippendäle ist ein Vermögen wert“, das hat sie immer gesagt. Es ging nicht durch die Tür, so groß war es, zwei Meter lang, schön geschwungen mit dunkelbraunem Lack. Da hätte bequem ein Mann darauf schlafen können. Sie mussten es zerlegen und durch das Fenster hereinschaffen. Sie haben das Chippendale zur Hochzeit bekommen. Und immer poliert und in Ehren gehalten. Und nur das gute Geschirr hinein, das andere für alle Tage in den Küchenschrank. Das Chippendale war nicht von schlechten Eltern, da wusste man sofort, wen man vor sich hatte. Und teuer dazumalen. So ein Möbel lässt man nicht zurück. Sie haben es vor den Bomben gerettet und haben es aufs Land gebracht, die junge Frau mit dem Kind im Bauch war auch dabei. Haben es wieder zerlegt und aufgebaut in dem leeren Zimmer mit dem Misthaufen davor. Das hat sie ihm geschrieben:
„Lieber Schatz. Dein Madl.“
Er war im Krieg und hatte andere Sorgen. Flakabwehr zum Beispiel. Und schön schneidig aussehen beim Ausgang, wenn sie kam am Sonntag. Und tanzen. Das konnte sie. Zuletzt kam er an die Front. Weit weg, zu weit und direkt vorm Russen. Da hat sie ihm geschrieben. Und er hat zurückgeschrieben:
„Liebes Madl, wart’ auf mich, wart’.“
Das Chippendale war gerettet. Dann war der Krieg aus und sie hat gewartet. Dann kam der Ami, legte sich aufs Chippendale und drückte seine Zigaretten darauf aus. Das Chippendale hat sehr gelitten – hätt’ alles noch schlimmer kommen können, da draußen auf dem Land!
In der Stadt stand kein Stein mehr auf dem anderen und es hat nach Brand gerochen. Vom Haus war nicht viel übrig, aber es hat gereicht für die Mutter und das Kind und fürs Chippendale. Es gab sogar einen, der die Zigarettenlöcher weggemacht hat. Sah wieder aus wie neu. Und jetzt wussten alle wieder, wen sie vor sich hatten. Da dauerte es nicht mehr lange, bis er wiederkam. Den ganzen Weg ist er gelaufen, bis auf das Stück, das er mit dem Schiff gefahren ist, das wär’ beinah schiefgegangen – der verdammte Engländer –, dann per Anhalter und dazwischen immer zu Fuß. Hat Wochen gedauert. Den Sohn hat er sehen wollen, deshalb ist er gelaufen. Er hat gewusst, dass es ein Sohn ist, instinktiv.
Das Chippendale stand an der Wand, die Frau daneben. Und er hat nur Augen für den Sohn.
Später, viel später. Blitzschnell ist es gegangen, er hörte, wie die gute Kaffeetasse auf dem Steinboden zersplitterte, er drehte sich um und sah, wie sie zu Boden fiel. Blut brach aus ihrem Mund hervor und es bildete sich eine Lache auf den Fliesen.
Die Erinnerung klebt wie Schleim an seinen Fingern, sie lässt sich ziehen, es bilden sich kleine Löcher, aber sie zerreißt nicht. Er kann sie nicht abstreifen, nicht zu einer Kugel drehen, einwickeln und wegwerfen, sie ist so klebrig und zäh, dass sie an allem haftet. Er wird sie nicht los. Nimmermehr wird er sie los.
Jetzt bleibt die Zeit stehen. Er wartet. Tagelang wartet er. Er kann nicht mehr. Dann merkt er, dass der Zustand nicht unerträglich ist, weil er immer noch wartet und ihn erträgt. Keine Zeitung. Keine Nachrichten. Soll der Sohn die Rechnungen bezahlen, soll der Sohn mit den Leuten reden.
Neue Russen kommen, zerlegen das Chippendale. Sie sind so vorsichtig wie Chirurgen, so zart wie Liebhaber. Sie ziehen die Schubladen heraus und schrauben die Türen ab, die Rückwand und die Seitenwände entfernen sie und tragen auf ihren Händen alle Stücke einzeln die Treppe hinunter. Die haben Achtung vor dem Chippendale. Die Russen packen alles ein – Weingläser, Biergläser, Schnapsgläser, Wassergläser, Suppenteller, Essteller und die guten Kaffeetassen, die mit dem Goldrand für sonntags. Nichts ist zerbrochen, aber eine hat gefehlt.
Als sie das Silber sehen, gehen ihnen die Augen über. Sie packen alles in Plastiktüten und in gelbe Müllsäcke, immer zwei übereinander. Der Russe mit den roten Haaren und den Sommersprossen hat Kraft. Wie geschaffen zum Möbelpacken. Dort war er Tierarzt. Der andere ist der Chef, er heißt Heine – Cheine sagt er – hat lange schmale Hände, trägt einen Anzug, keine Möbel. Er deutet auf die Gebirgslandschaft. – Dolomiti? Ja: Dolomiti! – mit Bergsee und Tannen in Öl, graugrünbraun, farblich abgestimmt auf das Sofa. Alles im schweren Goldrahmen. Können wir nicht brauchen, das Sofa. Geben sie mir ein Schlafsofa! Und die Berge! Die Dolomiti! Diese Kunst! Das gefällt! Auch die Sonnenblumen, auch die Segelschiffe vor Venedig. Wieviel? Alles packen sie ein, die Russen.
Im Chippendale lagen doch die Briefe! Seine Briefe. Sie hat gesagt: Die gehen niemanden was an. Nicht den Sohn und noch weniger die Schwiegertochter. Nur mich, nur dich. Später hat er ja nicht mehr geschrieben. Warum auch – keinen Tag waren sie mehr voneinander getrennt. Ohne offene Feuerstelle ist es schwer, etwas zu entflammen, hat er gedacht.
Er muss den Sohn fragen. Er fragt den Sohn:
„Was habt ihr mit dem Chippendale gemacht?“
Der Sohn antwortet:
„Wir haben es dem Russen gegeben, Vater“.
 „So“, sagt er. „So“.
Da fängt das Mädchen wieder zu tanzen an. Es regnet draußen und der Opa sieht Schlieren vor den Augen, aber das Mädchen tanzt, so schön wie es noch nie getanzt hat. Es tanzt für ihn, nur für ihn, aber er winkt nicht. Er rollt zu seinem Schrank, macht die Tür auf und reckt sich. Er greift zwischen die Wäsche. Er sucht etwas, tastet, hebt ein Stück nach dem anderen auf. Nichts. Er kann sich doch genau erinnern. Er hat sie absichtlich nicht ins Chippendale gelegt, damals – da lagen doch die Briefe. Das weiß er genau – und das Chippendale hat jetzt der Russe. Sie lag im Wäscheschrank zwischen den Handtüchern. Klein und handlich. Eine Astra, eine kleine spanische Astra, noch in der Original Pappschachtel, die Munition vorschriftsmäßig davon getrennt. Vielleicht war er doch schuld an allem. Er will sich nicht erinnern. Woher kam das Blut auf den Fliesen? Er hat es nicht weggewischt. Er würde jetzt nicht mehr winken.
Vater, was soll ich mit der Pistole machen. Beim Umzug hat der Sohn sie gefunden im Wäscheschrank. In der Originalschachtel. Ungeöffnet, ungebraucht. Gut so. Er kann jetzt das Blut wegwischen. Die Fliesen werden auf einmal wieder weiß und schwarz, weiß und schwarz, ohne Flecken. Eine Weste trägt er schon lange nicht mehr.
Sie sind alle hinter ihm her. Der Opa öffnet seine Tür – er muss schließlich auch mal was anderes sehen – sofort stürzen sie sich auf ihn. Sie haben sich zurechtgemacht, Hauptsache Haare schön, sogar Lippenstift, sie winken, sie werfen ihm Handküsschen zu, sie rufen ihn zu sich her. Weiber, alte Weiber, was wollen die von ihm, wollen ihn aushorchen, wollen wissen, ob er schuld war. Dummes Zeug, er war nicht schuld, sollen ihn in Ruhe lassen. Er tut so, als ob er sie nicht sieht. Rollt an ihnen vorbei, zum Fahrstuhl. Hinauf, nur hinauf. Ins Café. Von dort oben kann er alles sehen. Er beobachtet sie. Wie eine nach der anderen einfährt, wie sie hält und wartet; wie sie sich langsam wieder in Bewegung setzt, wie gleich darauf die nächste kommt. Schöne rote Loks, große, schlanke, silbrigglänzende Körper, stumpfe Nasen, windschnittig. Der Opa setzt seine Brille auf. Nur jetzt keine Störung. Er will nichts verpassen. Gerade kommt wieder eine. Und was für eine. Er sitzt mit dem Rücken zum Tisch und schaut hinunter. Merkt nicht, wie sie sich zu ihm setzt, freundlich guten Tag wünscht. Der Opa hört schlecht und er gibt nichts auf Geschwätz, gibt nichts auf Weibergeschwätz. Sollen ihn in Ruhe lassen. Draußen wird es langsam dunkel, er dreht seinen Rollstuhl um und rollt zurück zum Aufzug. Er will nicht sehen, wie sie ihm nachwinkt. Er will nicht.
Am nächsten Tag beim Mittagessen sitzt er wieder mit ihr zusammen. Sie saß immer schon da. Er hat sie nur nicht wahrgenommen. Jetzt erkennt er sie. Die von gestern also, denkt er. „Merci“, ein Stück Schokolade, er nimmt es, dreht es um und liest: „Ich bin heute Nachmittag wieder im Café und warte auf Sie.“ Als er aufblickt, ist sie verschwunden. An diesem Nachmittag fährt er nicht nach oben. Natürlich nicht. Aber am nächsten. Sie sitzt allein an seinem Tisch mit dem Ausblick über den Stadtbahnhof. Er rollt zu ihr, und sie wird ein klein bisschen rot. Sie drehen beide ihre Stühle um und schauen schweigend zu, wie die Züge einfahren, wie sie halten und wieder abfahren. Als die Dämmerung hereinbricht, gibt er ihr die Hand und sagt:
„Merci“. Und er sagt auch: „Auf Wiedersehen.“
Jeden Nachmittag beobachten sie die Züge und erzählen sich kleine Geschichten. Manchmal haben sie nichts zu sagen und erlauben sich, einfach nur dazusein. Keiner stört sie dabei. Eines Abends sagt sie, dass sie gerne mit ihm tanzen möchte. Und sie wird wieder ein bisschen rot dabei.
Tanzen? Mit ihm?
„Man kann auf viele Arten tanzen – also?“
Er schaut auf seinen Fuß, den eigenen, den mit dem alten Schuh. Da fällt ihm das schöne neue Paar Schuhe ein, das schwarze, elegante, die Schnürschuhe mit den Ledersohlen in der Schachtel unten im Schrank.
Wie gut, denkt er, dass er zwei davon hat!
Er schmunzelt. – Also gut – warum nicht noch mal tanzen.


Entnommen aus:


Heide-Marie Lauterer, Irre Geschichten. Mattes Verlag.
E 9,00; ISBN 978-3-930978-19-9

Mehr von der Autorin:
www.heide-marie-lauterer.de

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen