Eiskasten
Es ist Tag. Ich kann verschwommen
erkennen, dass der Himmel unbewölkt und klar ist. Ich sitze auf einem
moosbepolsterten Baumstumpf. Ein Frühlingsmorgen. Ein Morgen, der mit
Vogelgesang beginnen würde, mit harztriefendem Duft von unzähligen Bäumen. Ein
Morgen, der mit schweren Nebeldampfschwaden Einzug halten würde. Ein Morgen mit
Wind und Erde und Sonne, doch es trennt uns etwas. Den Morgen und mich trennt
eine Eisschicht, so dick wie eine Handbreite. Diese Eisschicht war langsam um
mich herum und über mir zugefroren. Gestern und vorgestern und noch davor. Ich
erinnere mich, dass es lange gedauert hat. Doch nun ist sie fertig und hat mich
in sich eingeschlossen. Der Einschluss von winzigen Fliegen oder Schachtelhalmen
in Bernsteinen wäre gewiss nicht eindrucksvoller zustande gekommen. Jedoch blieb
diesen armen Geschöpfen jener Moment, in dem sich die letzten Harztröpfchen zum
späteren Bernstein verschlossen, vorenthalten. Ich aber lauschte dem
knirschenden Eis, das sich, leicht tropfend, zielstrebig verband. Nun knackt das
Gefrorene ab und zu. Doch ein gleichartig hohes Stöhnen, wie ich es hörte, als
Kristallfaden und Kristallfaden sich die Hand gaben, sich aufseufzend endlich
fanden und nun engumschlungen in sanftem Schlummer beieinanderliegen, habe ich,
seitdem das Eisdach zufror, nicht mehr gehört. Jetzt ist stets mein Herzklopfen
lauter als das Knacken des Eises. Und mein Atem ist lauter als mein
Herzklopfen.
Die Stimmen der Vögel dringen nicht
durch das Eis. Auch das Rauschen der Blätter dringt nicht durch das Eis. Nicht
einmal das Summen der Insekten, die sich manchmal überrascht auf meinem
Eiskasten niederlassen, dringt durch das Eis.
Ab und zu findet ein winziger Käfer den
Weg zu mir. Ein Loch zwischen Eis und Boden, das er gegraben hat. Dann ziehe ich
schnell die Füße hoch. Ich will nicht, dass er mich berührt, denn er kommt von
außen und ich bin innen. Trotzdem lobe ich seine Qualitäten als fleißiger
Gräber. Schließlich will ich ihn nicht kränken. Ich will niemanden kränken.
Meine Füße baumeln über dem zerbrechlichen kleinen Panzer. Ich überlege
manchmal, ob er zwischen meiner Großzehe und der nächsten kleinen Zehe
hindurchkrabbeln könnte. Ich stelle mir das Kitzeln an meinen Füßen vor und
wippe ungeduldig mit den Zehenschatten. Er hat Angst vor der Dunkelheit unter
meinen Füßen. Er gräbt sich schnell auf der anderen Seite des Eiskastens
hindurch und hinaus in seine Freiheit.
Manchmal scheint die Sonne genau auf
eine der vier Ecken meiner Behausung. Dann leuchtet die Luft in allen
Regenbogenfarben. Mein herrliches Prisma, das mir die Sonnenstrahlen zuwirft.
Der Farbenfächer wird von der Wand zur Ecke, zur Wand, zum Dach geschleudert.
Ich versuche, die Farben einzusaugen, suche einen anderen Geruch und Geschmack
als den meiner Haut, meines Kleides, meines Mundes. Dann endlich liegt ein
Farbenstrahl auf meiner Zunge und löst sich in der Flüssigkeit auf. Ein süßer
Geschmack, wie ein Gemisch aus Honig und Salbei, in meinem Speichel. Die
restlichen Farbenfinger gleiten über mein Kleid, zählen die Knöpfe, zählen die
Knautschfalten und hüpfen begierig von der Taillennaht zum Rocksaum, an den
Beinen hinunter. In der Nacht schlafen sie bei meinen Füßen. Dort ziehen sie
sich die schwarze Decke über den Kopf, um zu schlafen, während ich
wache.
Entnommen aus:
Anette Butzmann Eisblutgeschichten
Anette Butzmann Eisblutgeschichten
Erschienen im Seidler Verlag
12,80 EUR / ISBN 978-3-931382-13-1 (Buch)
19,80 EUR / ISBN 978-3-931382-46-9 (Buch / CD)
Mehr unter: www.eisblutgeschichten.de
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