Sonntag, 17. Dezember 2017

Der Sternträger - Weihnachtliche Kurzgeschichte von Jürgen Drawitsch


Der Sternträger
Es wurde Abend, als sich Pedro auf den glatten Felsen setzte. Noch war der große Stein warm, doch der kühle Dezemberabendwind strich über die Mole und holte sich die Wärme, die ihm der Atlantik nicht mehr geben konnte. Das Meer war träge. Die graublauen Wellen leckten spielerisch an den kleinen Kieseln und Muscheln des Strandes.

Pedro schaute auf sein Knie. Die Hose hatte einen frischen Riss. Sein Rand war blutverschmiert. Er hatte schnell laufen müssen, als der Mann nach der Polizei schrie. Zum ersten Mal war es schiefgegangen. Zum ersten Mal hatte er den fremden Geldbeutel nicht schnell genug in seinen Leinenbeutel gleiten lassen. Dann war alles schnell gegangen. Pedro rannte wie der Blitz, sprang über eine Bank, rannte quer über den Beton des Dorfplatzes, weiter über Sand, sprang über einen umgestürzten Baum, dann über zwei Hecken und immer weiter, bis die Trillerpfeife des Polizisten endlich leiser wurde. In der kleinen Höhle, seinem Geheimversteck, legte er sich auf den kalten Boden. Sein Herz schlug wild.  Pedro hatte gewartet, bis sein Brustkorb sich beruhigte und das Blut an seinem verletzten Knie geronnen war. Er war in seinem Versteck geblieben, bis er den Abend kommen spürte. Es war die Zeit, wenn die Geräusche klarer und die Schatten länger werden, wenn sich Fenster öffnen und das Geplapper aus Fernsehern nach draußen fließt. Der Junge humpelte, bewegte sich vorsichtshalber am Rande des Ortes, zwischen einfachen, schlichten Häusern und dem steil aufragenden Berg, der über das Leben in Playa Santiago wachte.

Auf dem Felsen sitzend, betrachtete er noch immer sein verkrustetes Knie. Er biss die Zähne zusammen, als er die Wunde mit salzigem Meerwasser betupfte. Es brannte höllisch. Auch am Rand der gerissenen Hose beseitigte er die Spuren seiner Flucht. Dann setzte er sich wieder auf den Felsen, schaute auf die klare Linie des Horizonts, wo die Silhouette eines Tankers erschien und sich ein Streifen Abendrot bildete. Pedro wendete sich der anderen Seite zu. Über der Promenade zeigte sich ein zartblauer Himmel, vor dem sich die künstlichen Bethlehem Sterne der Adventsbeleuchtung abhoben. Der Schatten des Jungen, der auf ihn zukam, war ihm bekannt. Es war Felipe, unschwer zu erkennen an seiner kleinen, gedrungenen Figur. Er hörte schon von weitem das schwere Schnaufen, und schließlich die hohe piepsige Stimme. Felipe schrie: „Pedro! Pedro! Komm schnell!“ Aber Pedro blieb sitzen und rührte sich nicht. Er wartete, bis Felipe noch näher kam, ehe er zurückrief:  „Was ist?“
 „Du musst kommen. Schnell!“
„Warum?“
„Señor Ramos schickt mich. Der Sternträger.“ Weiter kam Felipe nicht, weil er vollkommen außer Atem war und stehen bleiben musste.
„Was ist mit dem Sternträger?“
„Er ist ausgefallen. Du musst ihn spielen.“ Felipe stand jetzt am Rande der Mole, stützte sich mit den Armen auf seine dicken Schenkel und pumpte. Sein Gesicht war schweißüberströmt.

„Ich darf den Stern tragen? Ist das dein Ernst?“
„Señor Ramos hat es gesagt. Er ist der Chef, das weißt du doch. Jetzt komm endlich.“
„Wo ist Carlos? Er trägt doch den Stern seit Jahren.“
„Er ist krank geworden, hat Durchfall, glaub ich. Auf jeden Fall kann er nicht. Komm schon.“

Der Sternträger war die beliebteste Figur in der Gruppe der Auserwählten, die an den vier Wochenenden im Advent durch den Ort zog, an verschiedenen Häusern und an Lokalen Halt machte und Weihnachtslieder sang. Seit Pedro denken konnte, hatte Carlos den Sternträger gespielt. Carlos, der Streber, der immer seine Hausaufgaben hatte und alles wusste.

All das ging Pedro durch den Kopf, als er mit Felipe über die Avenue Maritima zum Dorfplatz ging. Dort stand die Gruppe. Señor Ramos trug seine Gitarre auf dem Rücken und gab Anweisungen. Tamburine, Rasseln und die Trommel waren schon verteilt. „Ah, da bist du ja“, begrüßte ihn Señor Ramos. „Du weißt, was du zu tun hast? Am Ende unseres Auftritts bittest du die Zuhörer um eine Spende. Hier ist der Beutel, und hier ist der Stern“, sagte Señor Ramos und überreichte ihm den Stab, an dessen Spitze immer ein neu gebastelter, gelber Stern befestigt war, den der Sternträger am Ende mit nach Hause nehmen durfte.

„Ach, und noch etwas“, sagte Señor Ramos, „du hältst dich natürlich immer in der Nähe des Engels auf. Weißt du auch warum?“ Pedro schaute ratlos in die Augen des Mannes, der ihn um einen guten Kopf überragte. „Weil er dann bei Rosa stehen darf“, rief einer in die Runde und alle lachten. Pedro wurde rot im Gesicht. Es war ihm peinlich, und am liebsten wäre er noch einmal davongerannt an diesem Tag, aber das traute er sich nicht wegen des Sterns, der in den Staub gefallen wäre. Stattdessen schaute er weiter in das fragende Gesicht von Señor Ramos und zuckte mit den Schultern. „Weil es ohne den Engel und seine Verkündigung auch keinen Stern gegeben hätte. Hast du das verstanden?“ „Si Señor Ramos“, antwortete Pedro.

Rosa, ausgerechnet Rosa Santos, spielte den Engel. Er hatte sie in der Gruppe noch gar nicht bemerkt. Wie immer hielt sie sich im Hintergrund. Erst jetzt, als sich alle in Bewegung setzten und der Engel mit gesenktem Haupt an ihm vorbeistrich, sah er sie. Sie sah ihn nicht an. Er folgte ihr schweigend. Ihre Flügel hatten schon einige Weihnachtszeiten hinter sich. Die Federn waren ramponiert und mehr grau als weiß. Aber die pechschwarzen, langen und lockigen Haare, die dem Mädchen wie ein Wasserfall über den Rücken fielen, ließen die Flügel heller erscheinen. Ihr aufgesteckter Heiligenschein wippte bei jedem Schritt. Sie war so zierlich wie ein Vögelchen. Im Unterricht sprach sie leise, kaum vernehmbar, aber wenn sie drankam, wurde es im Klassenzimmer augenblicklich mucksmäuschenstill, so dass jeder ihre helle, feine Stimme vernahm. Sie war anders als alle anderen, irgendwie sonderbar.

Die Sonne war schnell im Meer versunken. Nur die Strandpromenade war in helles Licht getaucht. Die Seitenstraßen lagen fast gänzlich im Dunkeln. An verschiedenen Häusern machten sie Halt. Señor Ramos nahm seine Gitarre und stimmte eines der bekannten Weihnachtslieder an. Tamburin, Trommel und Rasseln fielen mit ein. Sie sangen vom Eselchen, das dem Christuskind Schokolade bringt, von den Fischen, die das Meer austrinken, um das Kind in der Krippe zu sehen. Es waren freudige, beschwingte Lieder, und Pedro vergaß die Schmerzen in seinem Knie.

Am Ende jedes Standkonzertes ließ er den Beutel herumgehen, der sich zusehends füllte. Für die Erwachsenen gab es einen Schluck Wein oder einen selbst gebrannten Schnaps, für die Kinder Süßigkeiten. „Kannst du meine Schokolade in deine Tasche tun?“, fragte Rosa. Sie hatte sich unvermittelt umgedreht und hielt Pedro ihre volle Hand entgegen. Wieder schoss ihm die Hitze ins Gesicht. Wie gut, dass es dunkel war. Zum ersten Mal hatte sie ihn angesprochen, zum ersten Mal offen in die Augen geschaut, statt sich verstohlen wegzudrehen, wie sie es sonst tat. „Na klar. Gib her“, sagte er und bereute seinen rüden Ton. Doch da war die schmale, zarte Hand des Engels schon wieder aus seinem Beutel geglitten, und er sah nur noch den Heiligenschein.

Die letzte Station der Weihnachtsboten war das Restaurant „Don Tomate“. Es lag fast am Ende des Hafens, nicht weit von der kleinen, in Fels gehauenen Kirche. An Heiligabend würde sie wieder aus allen Nähten platzen, weil fast alle aus dem Dorf kommen würden, um dem Jesuskind zu huldigen, und sie würden wieder geduldig Schlange stehen, um der Puppe in der Krippe die Füße zu küssen.

Señor Ramos ging zwischen den mit Touristen besetzten Tischen bis zur offenen Terrassentür, wo Rita, die Besitzerin des Lokals, wartete. Sie umarmten sich.
„Ist es dir recht, wenn wir euch Musik machen?“
„Aber natürlich. Wo denkst du hin? Wir bitten darum! Wir haben schon auf euch gewartet. Schau, was ich für euch vorbereitet habe“, sagte sie und deutete ins Innere des Lokals, wo auf zwei langen Tischen gefüllte Brotkörbe standen und leckere Tapas auf Platten angerichtet waren.
„Oh, das hättest du uns nicht vorher sagen dürfen, sonst denken wir nur an dein köstliches Essen“, scherzte Señor Ramos.

Schon hatte er seine Gitarre griffbereit und begann das kleine Standkonzert mit einem Solo zu Ehren der Wirtin, die er nicht aus den Augen ließ, während seine Finger wild in die Saiten griffen. Die Frauen an den Gästetischen legten ihr Besteck beiseite und verfolgten die Szene mit Interesse. Fast nahtlos ging das erste Lied ins zweite über, und die Musikanten, die geduldig auf das Ende der kurzen Turtelei gewartet hatten, stiegen sofort mit Leidenschaft ein. Pedro wurde immer stärker von der Musik erfasst. Zu Beginn des Abends war er noch mehr mit seiner Rolle als Sternträger beschäftigt gewesen, doch schnell hatte er festgestellt, dass er bei fast allen Liedern den Text auswendig konnte. An den nächsten Stationen stimmte er etwas zurückhaltend mit in den Gesang ein. Weil er immer in unmittelbarer Nähe des Engels stehen sollte, verband sich seine Stimme ein wenig mit Rosas hellem Klang.

Die Wirtin klatschte den Takt mit, drehte sich wie eine Flamenco Tänzerin und tanzte um den Gitarristen. Als Pedro zwischen den beiden hindurch ins Innere des Restaurants sah, wäre er vor Schreck am liebsten in den Boden versunken. Dort saß der Mann, dem er am Mittag den Geldbeutel gestohlen hatte, der noch immer in dem Beutel steckte, der an Pedros Schulter hing. Der Unbekannte hatte ihn offenbar noch nicht bemerkt, oder er hatte sich Pedros Gesicht nicht eingeprägt. Hinter der kleinen, zierlichen Rosa konnte er sich nicht verstecken. Der Stern, fiel ihm ein. Er musste den Stern immer nur zwischen sich und den Fremden halten. Dann würde ihm nichts passieren.

„Zum Abschluss singen wir für alle wie immer Feliz Navidad“, sagte Señor Ramos. Endlich, dachte Pedro, dann hab ich es gleich geschafft. Ich werde sofort verschwinden. „Und bei dieser Gelegenheit“, sagte Señor Ramos weiter, „stelle ich euch heute einen neuen Sänger vor, der mit seiner schönen Stimme bislang viel zu zurückhaltend war.“ „Oh!“ und „Bravo“ kam es aus dem Publikum. „Unseren Sternträger Pedro. Komm mal nach vorn.“

„Aber ich darf doch den Engel nicht verlassen“, presste er hinter dem schützenden Stern hervor. Alle lachten, während Rosa ihr zartes Engelgesicht zu Boden senkte. In dem Jungen tobte es. Er konnte doch nicht nach vorne gehen. Was fiel Señor Ramos eigentlich ein? Er war doch zum ersten Mal dabei. Und überhaupt. Es hatte keinen Sinn. Er musste weg. Einfach den Stern zu Boden werfen und weg. Er gab sich einen Ruck. Aber Rosa ebenso. Blitzschnell drehte sich das Mädchen um und schaute ihm direkt in die Augen. „Bloß nicht. Du kneifst jetzt nicht Pedro“, flüsterte sie. Und dann lächelte sie, heller wie jeder Stern, schöner als jeder Sonnenaufgang.

„Na komm schon. Sei kein Frosch“, befahl Señor Ramos. Pedro nahm sein Herz in die Hand und ging. Er stellte sich neben den Gitarristen und vermied jeden Blick zu dem fremden Touristen, der ebenso wie alle anderen über Pedros Bemerkung gelacht hatte. Dann ging es los. Die Gitarre zog alle mit, und Tamburine, Rasseln, alles was einen Takt schlagen konnte, stimmte mit ein. Pedro sang Feliz Navidad. Und wie er sang. Aus vollem Herzen. Seine Stimme erhob sich mühelos über die von Señor Ramos. Die Zuhörer klatschten mit. Einige begannen auf der Veranda zu tanzen. Das Meer war in der Dunkelheit nur zu erahnen. Es wehte ab und zu noch eine Brise Salzluft über die Gesellschaft. Das Leben des Ortes pulsierte auf der Veranda von „Don Tomate“. Pedro stand im Epizentrum. Längst hatten sich andere Schaulustige eingefunden, angezogen von der Musik und Pedros Gesang wie Motten vom Licht. Alles jubelte und forderte Zugabe, und natürlich spielte Señor Ramos weiter, so lange bis niemand mehr auf seinem Stuhl saß.

Der rauschende Beifall war für Pedro wie ein Bad, obwohl er in seinem Leben noch kein Bad gesehen, geschweige denn betreten hatte. Eine Wärme der Anerkennung umgab ihn, ein Wohlgefühl  stellte sich ein, so dass er sich neben Rosa wie benebelt am Tisch wiederfand, den Señora Rita für die Gruppe gedeckt hatte. Die salzigen, aromatischen Oliven, das frische krustige Weißbrot. Es war wie im Himmel. Alles Schwere, das sich oft wie Blei auf das junge Leben Pedros legte, war wie weggeblasen. Doch in diesem Moment kam der fremde Tourist auf dem Weg zur Toilette an Pedro und Rosa vorbei. Pedro schaute angestrengt auf seinen Teller und spürte, wie der Mann direkt neben ihm stehen blieb.

„Entschuldige mein Junge“, sagte der Fremde und räusperte sich. Pedro sah langsam hoch. Sollte das Versteckspiel doch endlich zu Ende gehen. „Ich wollte dir unbedingt noch zu deinem Auftritt gratulieren. Du hast eine wundervolle Stimme. Mach was draus“, sagte der Mann und tätschelte Pedros Schulter. „Ach ja, hier habe ich noch zehn Euro. Du hast beim Sammeln unseren Tisch vergessen. Meine Frau hat mich gebeten, Dir das Geld zu geben. Ich selbst kann leider nichts geben. Mein Geldbeutel wurde mir heute gestohlen“, sagte er und ging nach hinten zur Toilette.

Pedro war speiübel. Er fasste sich an den Hals. Seine Gedanken überstürzten sich. Der Geldschein lag noch neben dem Teller. Er griff nach seiner Umhängetasche, fühlte den Geldbeutel des Mannes. Dann sah er zu Rosa. Sie hatte ihn die ganze Zeit beobachtet. Das Mädchen kaute langsam an seinem Brot. Eine Strähne hing ihm im Gesicht. Seine Blicke bohrten sich in Pedros. Rosa sagte kein Wort, aber sie sprach mit ihren Augen, mit kleinsten Veränderungen ihrer Mimik. Erst als sie sich sicher war, dass er sie verstanden hatte, nickte sie in Richtung Toilette. Pedro presste die Lippen zusammen, griff den Geldbeutel und ging in die ihm zugewiesene Richtung.

Als er zurückkam musterte ihn Rosa zunächst mit fragendem Blick. Aber als sie sah, dass sich Pedro zum ersten Mal an diesem Abend mit aufgerichtetem Oberkörper hinsetzte, war sie zufrieden.

„Fühlt sich doch besser so an, oder?“, fragte sie ihn.
„Ja. Auf jeden Fall. Aber ich mach es ja nur, weil ich es muss.“
„Ich weiß, Pedro. Trotzdem fühlt es sich jetzt besser an.“
„Meinst du wir können einen kleinen Schluck Wein haben?“
„Aber nur einen klitzekleinen. Du musst außerdem noch zu Carlos.“
„Zu Carlos? Warum denn zu ihm?“ Pedro sah Rosa an, und das Mädchen musste kein Wort sagen, um mit ihm zu sprechen.
„Ich darf ihn nicht behalten, obwohl ich ihn getragen habe? Das ist nicht dein Ernst.“
Es war ihr Ernst und sie wusste, dass er keine Argumente hatte, die gegen ihren Plan sprachen.

 „Ich war aber noch nie bei Carlos“, sagte er.
„Ich gehe ja mit dir“, sagte sie fast beiläufig. Er schluckte.
Fetzen von Fernseh- und Radiosendern begleiteten Rosa und Pedro auf ihrem Weg durch die dunklen Gassen. Viele Fenster standen offen. Das Mädchen und der Junge wussten, dass alle Häuser Augen hatten. Aber in der Dunkelheit konnte niemand so gut wie Pedro den wundervollen, leicht schokoladenen Duft des Mädchens schnuppern und niemand sehen, dass sich ihre Hände ab und zu beim Gehen berührten.

Pedro trug den Stern. Vor Carlos Haus angekommen, hielt er ihn sich vor die Brust. Rosa klopfte zweimal an die Tür. Erst blieb es still. Nur aus dem oberen Fenster drang Opernmusik, begleitet von Kastagnetten. „Komm wir gehen“, sagte Pedro, aber Rosa blieb stehen. „Seine Mutter wird schon kommen“, sagte sie und klopfte nochmal. Beide hörten Schritte auf einer Treppe und schließlich öffnete Carlos‘ Mutter die Haustür.

„Oh, was für eine Überraschung. Ihr beide besucht ihn. Da wird er sich aber freuen.“
„Wie geht es Carlos?“, fragte Rosa.
„Oh, er hatte heute ab Mittag nur einen Weg von seinem Zimmer zur Toilette und zurück.“
„Hatte er auch Fieber?“, wollte sie noch wissen.
„Du bist sehr besorgt Rosa. Dankeschön. Wollt ihr kurz zu ihm hoch? Vielleicht schläft er ja schon wieder.“

Das tat er nicht. Carlos saß auf einem Schreibtischstuhl, nur in T-Shirt und kurzer Hose und schaute Fernsehen. Der Besuch überraschte ihn. Sein Gesicht sah etwas mitgenommen aus. „Wie geht’s denn?“, wollte Pedro wissen.
„Beschissen“, kam die vollkommen ehrliche Antwort.

Rosa senkte ihren Kopf, obwohl sie keinen Engel mehr spielen musste.
„Wir bringen dir den Stern“, sagte Pedro.
„Warum? Du hast doch heute den Sternträger gespielt?“
„Ja schon, aber – eigentlich gehört er dir“, sagte Pedro und hielt ihn ihm nochmals hin, wobei er leicht vorwurfsvoll zu Rosa schaute, aber die hielt ihren Kopf nur gesenkt.
„Das ist wirklich nett von euch, aber ich komme mir komisch vor, wenn ich ihn jetzt nehme. Behalt ihn Pedro.“
„Du hast bestimmt eine Sammlung. Ohne ihn wäre sie unvollständig.“
Pedro ließ nicht locker. Wenn er schon hergekommen war, sollte es einen Sinn haben. „Zeigst du mir die Sternensammlung?“, hörten sie Rosas Stimme. Carlos ging an eine große Schublade und winkte sie herbei. Langsam öffnete er sie. Sie war mit dunkelblauem Samtstoff ausgeschlagen und in Felder unterteilt. In einigen lag jeweils ein großer goldener, selbst gebastelter Stern, versehen mit der Jahreszahl. „Wie schön“, sagte Rosa. „Und da hättest du auf diesen verzichtet?“, fragte Pedro. „Aber du darfst ihn hineinlegen“, sagte Carlos. Pedro war ein wenig flaumig dabei zumute, aber es war schön und es erfüllte ihn mit Stolz.

„Das hast du gut gemacht“, sagte Rose, als sie nach Hause gingen.
„Was denn?“
„Dass du ihm den Stern gebracht und an den richtigen Platz gelegt hast.“
„Hast du gewusst, wie er sie aufbewahrt?“
„Nein.“

 Sie gingen schweigend weiter bis zu der Stelle an der sich ihre Wege trennten. Pedro merkte erst jetzt, wie müde er war, und gähnte.
„Ich habe ganz vergessen, ihn zu fragen, ob es ihm bald wieder besser geht“, sagte er. „Hoffentlich ist es nichts Schlimmes, obwohl ich ihn gerne nochmal vertreten würde.“
„Nein es ist nichts Schlimmes.“
„Woher willst du das wissen?“
„Die Wirkung von Rizinusöl hält nur einen Tag.“
Pedros Augen weiteten sich so sehr, dass sie es sogar in der Dunkelheit sah.
„Du hast?“
„Ja. Aber das bleibt unser Geheimnis.“
„Aber warum hast du das getan?“
„Weil ich wusste, wer stattdessen den Stern tragen würde.“

Jürgen Drawitsch (59) ist Redakteur bei den Weinheimer Nachrichten und Schriftsteller. Im Robert-Schäfer-Verlag erschienen seine Romane "Sieben Tage am Meer" und "Der Levadaläufer".

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